Nach dem Schlaganfall zurück aufs Fahrrad ▷ Erfahrungsbericht
Helmut Gruhn mit seinem Patienten
Seit mehr als 45 Jahren arbeite ich nun als Physiotherapeut. In meinem ambulanten Rehabilitationszentrum, dem Perzeptionshaus in Hainburg, habe ich mich auf die Behandlung von Schlaganfallpatienten und -patientinnen spezialisiert. In einer spezifischen Intensiv-Therapie behandle ich wöchentlich 4 Tage mit jeweils 4 Stunden. Patientinnen und Patienten, die weiter entfernt leben, können während dieser Therapie im benachbarten Hotel wohnen.
Mit ganz konkreten Therapiezielen kam ein äußerst selbstbewusster, energischer und zielorientierter 60-Jähriger zu mir. Nach seinem sehr schweren Schlaganfall vor zehn Jahren konnte er zwar wieder Auto fahren und sich selbst versorgen, aber das Gehen klappte noch nicht einwandfrei und seinen Arm konnte er kaum benutzen.
Gleich am Anfang machte er mir klar, dass es sein Ziel sei, am Ende der vier Tage wieder Fahrrad zu fahren. Er wisse, dass es nahezu unmöglich sei, aber er habe so viel Positives von mir gehört und deswegen die 200 Kilometer Anfahrt und die Kosten nicht gescheut.
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Was für eine Herausforderung! Ich fragte mich, wie ich mit diesem Druck umgehen sollte. Sein Körperausdruck sagte mir: Ein „Geht nicht“ würde er nicht akzeptieren. Was jetzt? Ich wusste, dass Radfahren nicht möglich sein würde, aber wie sollte ich ihm das sagen, ohne ihn zu enttäuschen?
Ich bezeichne mich ja gerne selbst als kreativen Chaoten. Und so kam mir dann doch eine Idee. Nach der ersten Therapieeinheit versprach ich ihm, dass wir am Abend des dritten Tages zusammen mit dem Fahrrad in den fünf Kilometer entfernten Nachbarort fahren würden. Dort gebe es einen wunderbaren Biergarten. Wir würden gut essen und trinken und dabei ein Resümee ziehen.
Er schaute mich ungläubig an. Mit einem Dreirad, Festhalten oder einem Behindertenfahrrad komme das für ihn überhaupt nicht infrage! Als ich ihm versicherte, dass es zwei Räder gibt, keiner ihn festhält, beide Hände am Lenker sind und er dabei noch die Gegend genießen kann, verabschiedete er sich sehr nachdenklich.
Am Morgen danach berichtete er von einer unruhigen Nacht. Und ich setzte noch einen drauf. Für den Fall, dass es mit dem Radfahren nicht klappen sollte, versprach ich, die gesamte Zeche zu zahlen. Wenn es klappt, müsse er zahlen. Hocherfreut stimmte er zu. Das sei es ihm absolut wert, meinte er.
Mit viel Mut, Optimismus und Freude machten wir uns an die Arbeit. Dabei wurde mir mal wieder klar, wie wichtig in der Rehabilitation alltagsrelevante Zielsetzungen sind. Dadurch wird unglaublich viel Energie freigesetzt, um Unmögliches möglich zu machen.
Dann kam der große Moment. Ich öffnete die Tür zum Fahrradschuppen und seine Anspannung war riesig, als er die zwei Räder und einen Lenker sah. Vor ihm stand kein Behindertenfahrrad, sondern ein Tandem. Es dauerte einen Moment, dann konnte er das Tandem als Fahrrad akzeptieren.
Jetzt kam der schwierige Teil: Würde es gelingen, ohne dass jemand herunterfällt? Es hat geklappt! An einem schönen Mai-Abend fuhren wir durch saftige, grüne Kornfelder. Es roch nach Frühling und die Vögel sangen dazu.
Das einzige Problem nach zehn Minuten war ein schmerzender Hintern, denn der war den Sattel nicht mehr gewohnt. Dennoch kamen wir glücklich und ohne Sturz im Biergarten an. Es wurde ein herrlicher Abend.
Wir haben daraufhin noch viele Jahre erfolgreiche Therapien gemacht. Dabei entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft zwischen Patient und Therapeut. Immer wieder kamen wir auf unsere verbindende Tandem-Tour zu sprechen. Und zwei Jahre später konnte er dann ein ganz normales Fahrrad fahren!
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Autor
Helmut Gruhn ist seit mehr als 50 Jahren Physiotherapeut und auf die Therapie zerebraler neurologischer Ausfälle bei Erwachsenen spezialisiert. Als Bobath-Instruktor entwickelte er das Therapiekonzept “Back-to-Life” für Schlaganfall-Betroffene. Er leitet Fortbildungen und Seminare für Therapeuten und Ärzte und ist als Supervisor für neurologische Kliniken tätig. 2004 gründete er das Perzeptionshaus – ein Therapie- und Fortbildungszentrum für neurologische Rehabilitation. [mehr]