Ergotherapie bei Gesichtsfeldausfällen ▷ Ravensburger visuelles Kompensationstraining
In diesem Artikel:
- Das normale Gesichtsfeld
- Formen von Gesichtsfeldausfällen
- Ravensburger visuelles Kompensationstraining
- Übungen ohne Material
- Übungen mit Material
In Deutschland erleiden pro Jahr etwa 270.000 Menschen eine Schädigung des Gehirns durch Schlaganfälle. In etwa 40 Prozent der Fälle kommt es zu einer zerebralen Sehstörung (vom Gehirn ausgehende Störung des Sehens).
Das normale Gesichtsfeld
Das Gesichtsfeld stellt den Gesamtbereich dar, in dem ohne Zuhilfenahme von Augenbewegungen visuelle Wahrnehmung möglich ist.
Unterschieden werden die monokularen (einäugigen) Gesichtsfelder des linken und rechten Auges und das binokulare (beidäugige) Gesichtsfeld beider Augen. Ein Erwachsener hat binokular horizontal ein maximales Gesichtsfeld von rund 180 Grad, vertikal von ca. 60 Grad nach oben und von 70 Grad nach unten.
Das Gesichtsfeld wird auf beiden Seiten jeweils durch die Nase eingeengt.
Formen von Gesichtsfeldausfällen
Je nach Schwere und dem Ort der Schädigung im Verlauf der Sehbahn kann es zu verschiedenen Formen von Gesichtsfeldausfällen kommen.
- Bei einer Hemianopsie (Halbseitenausfall) kann der Betroffene mit einem oder beiden Augen auf einer Seite nichts sehen.
- Bei einer Quadrantenanopsie (Viertelseitenausfall) sieht er in einem Viertel des Gesichtsfeldes mit einem oder beiden Augen oben oder unten, rechts oder links nichts.
- Bei einem Skotom bestehen sehuntüchtige Flecken im Gesichtsfeld.
- Bei einer konzentrischen Einengung ist das Gesichtsfeld von den Außengrenzen her eingeengt.
Das bedeutet eine unter Umständen schwere, behindernde Einschränkung im Sehen und Erkennen. Ohne Anleitung im Umgang mit dem Sehdefekt können Orientierung, Lesen und oft auch die Bewältigung des Alltags beeinträchtigt sein.
Infolgedessen können manche Betroffene Beruf, Sport oder Hobby vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr ausüben. Ihre Mobilität ist eingeschränkt, weil Rad- oder Autofahren nicht mehr möglich ist.
Ergotherapie bei Gesichtsfeldausfällen
Um Betroffenen jeden Alters die Rückkehr in ein möglichst selbständiges Leben zu ermöglichen, müssen alle therapeutischen Mittel ausgeschöpft werden.
Im Rahmen der Ergotherapie kann ein zielgerichtetes visuelles Kompensationstraining erheblich dazu beitragen, die Auswirkungen der Schädigungen zu mildern und die Beeinträchtigung der Selbstversorgung zu überwinden.
Dieser Onlinekurs erklärt Ihnen in 12 kompakten Modulen alles, was Sie jetzt wissen müssen.
Ergotherapie ist ein medizinisches Heilmittel, das von Ärzt*innen verordnet und von den Krankenkassen bezahlt wird.
Im „Indikationskatalog Ergotherapie“ heißt es dazu:
Bei Schädigungen des Gesichtsfeldes lassen sich durch ergotherapeutische Maßnahmen krankheitsbedingte Beeinträchtigungen erheblich verbessern und die Betroffenen werden beim Erlernen von Kompensationsstrategien unterstützt.
Dabei werden folgende therapeutischen Ziele angestrebt:
- Entwicklung, Wiederherstellung und Erhalt von Alltags- und Handlungskompetenz zur Bewältigung allgemeiner Aufgaben und Anforderungen
- Erlernen von Kompensationsstrategien, ggf. unter Berücksichtigung vorhandener Hilfsmittel und Adaptionen des Lebensumfeldes
In der Ergotherapie werden die Patienten angeleitet, ihren Gesichtsfeldausfall durch bewusste Suchbewegungen im untüchtigen Sehfeld zu kompensieren.
Über positive praktische Erfahrungen hinaus belegen auch Studien, dass ein systematisches Kompensationstraining (auch exploratives Training und Sakkadentraining genannt) zur erheblichen Verbesserung des Sehens im Alltag führt. Die Behandlung mit Anleitung zum täglichen Training wird von Augenärzten, Neurologen und Orthoptist*innen als evidenzbasierte Rehabilitationsmethode empfohlen. Unter Sakkaden sind schnelle, bewusst oder durch visuelle Reize unbewusst, ausgeführte Augenbewegungen zu verstehen.
Ergotherapie bei Gesichtsfeldausfällen ist ein sehr spezielles Aufgabengebiet innerhalb der neurologischen Rehabilitation. Nicht alle Ergotherapeut*innen sind hierauf spezialisiert. So gilt es, in den einzelnen Praxen der jeweiligen Region nach Therapeut*innen mit diesem Schwerpunkt und deren Möglichkeiten für ein gezieltes Kompensationstraining zu fragen.
Diese Arbeit erfordert die Kenntnis der Anatomie des Auges, der Physiologie des Sehens und der vielfältigen hirnorganischen Leistungsstörungen.
Für eine zielgerichtete Behandlung ist eine umfassende augenärztliche und neuro-orthoptische Diagnostik die Voraussetzung. Ebenso ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligten Personen und die Kenntnis von weiteren Erkrankungen und Einschränkungen sowie der Lebenssituation des Betroffenen eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung.
RAVENSBURGER VISUELLE KOMPENSATIONSTRAINING (RVKT)
Das von mir und der Orthoptistin Christine Paul (Schwerpunkt Neuro- Orthoptik) erstellte RAVENSBURGER VISUELLE KOMPENSATIONSTRAINING (RVKT) bietet vielfältige Übungsmöglichkeiten und Materialien, die eine zielgerichtete Therapie ermöglichen.
Das dazu gehörende Buch „Ergotherapie bei Gesichtsfeldausfällen – Das Praxisbuch zur visuellen Rehabilitation“ (verlag modernes lernen, Bestell- Nr. 1618) entstand durch unsere jahrzehntelange Zusammenarbeit, während der sich bei vielen Patienten erstaunliche Fortschritte erzielen ließen.
Unser Anliegen dabei war, zum Wohl der betroffenen Patienten in den Einrichtungen für Anschlussheilbehandlungen, in den Reha-Kliniken mit dem Schwerpunkt Schlaganfall und in den freien Praxen Therapeut*innen ein Rüstzeug an die Hand zu geben, um zielgerichtet therapeutisch handeln zu können.
Es enthält eine Einführung zur Anatomie des Auges, zur Physiologie des Sehens sowie einen Überblick über erworbene zerebrale Sehstörungen. Schwerpunkt ist die Behandlung von Patienten mit Gesichtsfeldausfällen.
Informationsblätter zur Aufklärung und Beratung von Betroffenen und deren Angehörigen und ein Anamnesebogen erleichtern die Planung und Durchführung der Behandlung.
Eine fundierte Therapieanleitung und eine umfangreiche Zusammenstellung von Übungsideen und Übungsblättern bilden den praktischen Teil des Buches. Übungsblätter und Bögen zur mehrmaligen Verwendung stehen unter einem Link zur Verfügung. Hinweise zum gezielten Einsatz käuflicher Materialien und Spiele ergänzen das Praxisbuch für Ergotherapeut*innen, Orthoptist*innen und angrenzende Berufsgruppen.
Mit diesem Buch liegt erstmals eine umfassende Unterrichtsgrundlage für die Ausbildung von Ergotherapeut*innen vor. Damit ist der Weg zu einer besseren therapeutischen Versorgung der Menschen mit Gesichtsfeldausfällen geebnet.
Das RVKT besteht aus einer großen Sammlung von Seh- und Suchübungen, die sowohl mit als auch ohne Materialien durchgeführt werden können und die Sehwahrnehmung im Freien und im Raum fördern.
Weiterhin enthält es viele Übungsblätter verschiedener Schwierigkeitsgrade zur Verbesserung und Wiederherstellung der Lesefähigkeit. Sämtliche Übungen eignen sich sowohl für den Einsatz in der Therapie als auch für die vertiefende Eigenarbeit der Betroffenen.
Übungen ohne Material
Augenbewegungen
Eine elementare Kompensationsstrategie bei Gesichtsfeldausfällen besteht darin, ohne Mitbewegungen von Kopf und Rumpf die Blicke bewusst in das untüchtige Sehfeld zu führen. Die Anleitung dazu geschieht in der Therapiesitzung. Zunächst ist es dabei hilfreich, den Kopf mit der eigenen Hand zu fixieren. Durch intensives, häufiges Üben wird eine Automatisierung der Blickbewegungen erarbeitet und kann somit in den Alltag übertragen werden.
„Wandmaler“
Der Übende führt Augenbewegungen aus und stellt sich dabei vor, dass er wie ein Wandmaler die „Wand systematisch anmalt“. Die Augenbewegungen werden entsprechend der Abbildungen großräumig ausgeführt.
„Spiderman“
Von einem Fixpunkt an der gegenüberliegenden Wand werden die Blicke rasch und wiederholt in verschiedene Richtungen im untüchtigen Sehfeld geführt und Zielpunkte angepeilt. Dabei hilft die Vorstellung, wie „Spiderman“ Spinnfäden am Ziel zu befestigen.
Eine weitere Möglichkeit: Im Wechsel schnelle Blickbewegungen seitlich ins untüchtige Sehfeld führen und in die gegenüberliegende Richtung zurück.
Eine etwas schwierigere Variante: Schnelle Blickbewegungen schräg nach oben oder unten ins untüchtige Sehfeld führen und diagonal in die gegenüberliegende Richtung zurück.
„Randerscheinung“
Mit zwei dicken Stiften in einer kräftigen Farbe lässt sich eine Übung durchführen, die das aktive Sehverhalten fördert und den Versuch beinhaltet, das Sehfeld bzw. das eingeschränkte Gesichtsfeld zu beiden Seiten bewusst zu machen.
Die Stifte werden etwa 30 cm vor das Gesicht gehalten. Die übende Person richtet den Blick auf einen Punkt vor sich auf der gegenüberliegenden Wand. Die Stifte werden nicht direkt angesehen und nicht mit den Augen verfolgt.
Die Stifte werden senkrecht und zum Start der Übung zusammengehalten und langsam gleichzeitig nach außen geführt, zunächst nur so weit, wie sie gerade noch im Blickfeld gesehen werden können. Sie werden wiederholt auseinander und zusammengeführt, auch in verschiedene Richtungen.
„Scanning“
Eine sehr intensive Übungsmöglichkeit ist, im Freien und in Raumdistanz intensiv Gegenstände, Personen und bewegliche Objekte anzuschauen, möglichst mit geradem Kopf. Dies bezeichnen wir als „Scanning“ (scanning = engl. bedeutet abtasten, überprüfen). Die Patienten müssen dazu teilweise erst ermuntert werden, zumal das intensive Anschauen von Gegenständen ungewohnt und besonders das längere Anschauen von Menschen als „etwas unschicklich“ empfunden wird.
Schauen in Raumdistanz
Der Patient platziert sich so im Raum, dass sich im untüchtigen Sehfeld Einrichtungsgegenstände oder andere Details wie Türen, Fenster oder Bilder befinden. Dann schaut er, ohne den Kopf zu drehen, nur mit Augenbewegungen in folgender Weise umher:
- Die Umrisse von Fenstern, Türen, Bildern und Einrichtungsgegenständen mit dem Blick „umfahren“.
- Details und Menge von Einrichtungsgegenständen und Alltagsutensilien beobachten, z. B.: Wie viele Bretter sind im Regal / wie viele Vasen, Bücher, Gläser etc. stehen im Regalfach / wie viele Schranktüren sind in der Küchenzeile, etc.
Schauen im Freien
Das gezielte Schauen im Freien soll immer vorwiegend in das untüchtige Sehfeld erfolgen. Das bedeutet für die folgenden Übungsideen, sich entsprechend zu platzieren. Dies sollte in der Therapie besprochen und eingeübt werden.
Einige Beispiele:
Der Patient hat einen Gesichtsfeldausfall nach rechts. Er sitzt im Straßencafé, beobachtet Passanten und setzt sich dazu so hin, dass er die von links nach rechts gehenden Personen beobachtet und, ohne den Kopf zu drehen, so lange wie möglich mit den Augen „verfolgt“.
Ist der Gesichtsfeldausfall links, beobachtet er vor allem die Passanten, die von rechts nach links gehen. Dabei kann nach bestimmten Details oder Kategorien geschaut werden, z. B.:
- Brillenträger
- Frisuren
- Kleidungsstücke
- Schuharten
- Taschenarten
An Hecken / Waldrändern / Häuserzeilen entlang gehen, diese dabei intensiv anschauen und Details beobachten. Der Patient geht dabei so, dass die zu beobachtenden Dinge auf seiner sehuntüchtigen Seite sind.
Übungen mit Material
Im Handraum / auf dem Tisch
Unter Handraum versteht sich die nahe Umgebung, die, ohne aufzustehen, mit den Händen erreichbar ist.
Um das untüchtige Sehfeld zu trainieren, wird die Umgebung so adaptiert, dass „Sehziele“ im untüchtigen Sehfeld platziert sind, z. B. Dominosteine, Bildkarten oder doppelte Gegenstände.
Liegt eine Hemianopsie vor, wird das Material auf einem breiten Tisch platziert, damit großräumige seitliche Suchbewegungen mit den Augen ausführbar sind.
Wenn sich der Gesichtsfeldausfall im rechten oder linken oberen Quadranten befindet, müssen „Sehziele“ seitlich über Augenhöhe mit Hilfe eines Notenständers einer Buchstütze oder eines Hockers platziert werden.
Ist der Gesichtsfeldausfall im unteren Quadranten, wird die Vorlage zum Nachbauen z. B. auf einen Stuhl im untüchtigen Sehfeld platziert.
Übungen mit Wortkarten
Häufig ist durch einen Gesichtsfeldausfall die Lesefähigkeit massiv eingeschränkt. Um diese zu verbessern oder wiederherzustellen, enthält das RVKT Wortkarten in großer Schrift, mit denen eine Vielzahl von Übungen durchgeführt werden können.
Einige Beispiele:
- In Reihen ausgelegter Karten bestimmt Wörter suchen
- Wörter alphabetisch ordnen
- Buchstaben der Wörter zählen
- Bestimmte Buchstaben und Kombinationen suchen
- Wörter abschreiben
Übungsblätter
Ein großer Teil des RVKT besteht aus einer Vielzahl von Übungsblättern mit Suchübungen, die im Schwierigkeitsgrad ansteigend ausgewählt werden und den Betroffenen auch zu häuslichen Übungen mitgegeben werden können.
Zusätzlich zu den Augenübungen und dem Kompensationstraining bieten die Übungsblätter viele Möglichkeiten, um ein intensives Sehtraining durchzuführen.
Einige Beispiele:
- Vorgegebene Reihenfolgen in fortlaufenden Musterreihen suchen
- Zahlen verbinden
- Jahreszahlen in fortlaufenden Zahlenschlangen suchen
Um die Einschränkungen beim Lesen zu überwinden, ist die zielgerichtete Arbeit zunächst mit Buchstaben und Wörtern und weiterhin mit Texten erforderlich. Die betreffenden Übungsblätter enthalten weitgehend keine kognitiven Aufgabenstellungen. Somit ist mit diesen Materialien ein sehr intensives Lesetraining möglich.
Einige Beispiele:
- Buchstaben in fortlaufenden Buchstabenschlangen ausstreichen
- Wörter in fortlaufenden Buchstabenschlangen suchen
- Mehrteilige Wörter lesen und abschreiben
Zunehmend können Übungsblätter mit Texten bearbeitet werden, um die Lesefähigkeit weiter zu stabilisieren.
Einige Beispiele:
Sie haben Fragen zur Ergotherapie? Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen in unserem Forum aus.
- Nach dem Schlaganfall – Was macht die Ergotherapeutin?
- Sehstörungen nach einem Schlaganfall
- Rehabilitation nach einem Schlaganfall
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autorin
Sabine Pauli arbeitete viele Jahre in ihrer ergotherapeutischen Praxis mit Patienten, die durch Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns unter Gesichtsfeldausfällen leiden. Sie hat sich u. A. auf dieses Fachgebiet spezialisiert, eine Vielzahl von Übungsmöglichkeiten erprobt sowie eigene Übungsideen und Therapiematerialien erstellt. Sabine Pauli ist bekannt als Autorin weitverbreiteter ergotherapeutischer Fachbücher, Befundinstrumente und Therapiematerialien. [mehr]
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