Erfahrungsbericht von Sophie, 16 Jahre alt ▷ Schlaganfall mit 11 Jahren

Sophie im Skiurlaub
Einen Schlaganfall – den erleiden nur alte Menschen? Das wäre für mich und 250 bis 300 andere Kinder pro Jahr zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte die äußerst seltene “Ehre” einer Hirnblutung in den Basalganglien der rechten Hirnhälfte aufgrund einer AVM (ArterioVenöse Malformation), einer Fehlbildung der Blutgefäße im Gehirn.
Manche Patienten werden mit dieser tickenden Zeitbombe im Gehirn steinalt, ohne dass sie diese überhaupt jemals bemerken. Mir ist sie leider im Alter von 11 Jahren ohne zusätzliche äußere Einwirkungen wie einen Sturz oder einen Kopfstoß um die Ohren geflogen.
An die Einzelheiten des Unglückstages kann ich mich selbst nur eingeschränkt erinnern.
Schlimme Kopfschmerzen
Schon morgens in der Schule hatte ich schlimme Kopfschmerzen, wollte mich aber nicht abholen lassen. Denn eigentlich war ich vorher selten krank gewesen und Kopfschmerzen allein ohne Fieber fand ich nicht besorgniserregend. Mittags lief ich zusammen mit einer Freundin und deren Mutter meinen halbstündigen Heimweg. Später erzählten diese, dass ich fröhlich und ausgeglichen gewesen sei. Zu Mittag aß ich eines meiner Lieblingsessen: Mozzarella Caprese. Später erledigte ich meine Hausaufgaben, um danach zusammen mit meiner zwei Jahren jüngeren Schwester unser Harry Potter Hörbuch weiterzuhören.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel
In dieser entspannten Atmosphäre schoss dann plötzlich ein so heftiger Schmerz in meinen Kopf, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dass ich mich sehr erschreckte und nur noch zu meiner Mutter wollte. In dem Moment, als ich unseren langen Altbauflur entlanglaufe, hören meine Erinnerungen auf. Den Rest kenne ich nur aus Gesprächen mit meiner Mutter.
Dieser Onlinekurs erklärt Ihnen in 12 kompakten Modulen alles, was Sie jetzt wissen müssen.
Fast hätte ich es geschafft, bei ihr anzukommen, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte auf das Parkett. Durch dieses Geräusch beunruhigt, eilte meine Mutter zu mir. Klar und bewusst sprechen konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr, kurz darauf musste ich erbrechen und erlitt einen epileptischen Anfall, während meine Mutter mit der Notrufzentrale telefonierte und meinen Notfall so gut es ging versorgte. Meine jüngere Schwester hielt telefonisch meinen Vater auf dem Laufenden, der versuchte, so schnell wie möglich von der Arbeit in das Krankenhaus zu fahren, wo ich vermutlich behandelt werden würde.
Wenn ich hätte gehen wollen, wäre ich gegangen
Sie öffnete dann auch der Rettungssanitäterin und dem Notarzt die Eingangstür. Nachdem die Experten meine medizinische Versorgung übernommen hatten, sorgte meine Mutter dafür, dass meine Schwester von der Mutter ihrer besten Freundin und der Hund von unserem Nachbarn betreut wurden. Irgendwie haben wir es alle zusammen geschafft, diese erste Krise zu meistern.
Unverständlich war es dann für meine Mutter, dass der Krankenwagen nicht sofort losfuhr, nachdem ich dort untergebracht worden war. Was sie nicht wusste: Der Notarzt wollte mich zunächst intubieren, damit während des Transports in das Krankenhaus meine Beatmung sichergestellt war. Allerdings ist die Ausrüstung im Krankenwagen insbesondere auf die medizinische Versorgung von Erwachsenen abgestellt, weshalb es nicht selbstverständlich war, dass dieses Vorhaben gelang.
Wertvolle Zeit habe ich dadurch aber nicht verloren, weil es für eine OP sowieso nötig war. Wie lebensbedrohlich meine Lage war und dass es gut hätte sein können, dass ich das Krankenhaus nicht lebend erreichen würde, war meiner Familie in diesen Momenten zum Glück nicht bewusst. Es heißt, wenn ich hätte gehen wollen, wäre ich gegangen.
Notfallbehandlung im Krankenhaus
Weil im Schockraum des Krankenhauses alles sehr schnell gehen musste, musste leider mein Lieblingsshirt aufgeschnitten und ebenso wie meine schönen, langen, lockigen Haare geopfert werden.
Nach einem Schädel-CT wussten die Experten, dass ich so schnell wie möglich operiert werden musste. Die Wartezeit von 2 bis 3 Stunden verbrachten meine Eltern zusammen in einem Behandlungszimmer, betreut von einer Seelsorgerin. Eigentlich ist das ja keine lange Zeitspanne, aber wenn der Ausgang ungewiss ist, möchte man auf keinen Fall, dass diese frühzeitig endet, sich aber auch bitte nicht in die Länge zieht.
Operation verlief erfolgreich
Mit großer Erleichterung erhielten meine Eltern die Nachricht von der erfolgreichen Operation, 90 % des Weges hätte ich geschafft, für die letzten 10 % bräuchte ich aber viel Geduld und Ausdauer. Ob und wie lange es dauern würde, bis ich wieder in die Schule gehen könne, sei ungewiss.
Aber Kinder seien wie Katzen, sie hätten 9 Leben und würden immer auf die Füße fallen. Wenn man sich einen Zeitpunkt für eine Hirnblutung wünschen könnte, gelte je früher, desto besser, weil das kindliche Gehirn Schädigungen besser neuroplastisch kompensieren könne. Das Wort Neuroplastizität sollte mein Mantra werden.
Künstliches Koma
Um meinem Gehirn die notwendige Zeit zur Erholung zu schenken, hatten die Ärzte meine Schädeldecke nicht direkt wieder verschlossen, damit möglicher Hirndruck sich ausdehnen konnte. Und man versetzte mich in ein künstliches Koma. Ich kann nur bestätigen, dass man auch in diesem Zustand „wache“ oder zumindest weniger schläfrige Momente hat.
Daher müssen die Menschen am Bettrand der erkrankten Person aufpassen, was sie in der Anwesenheit des betroffenen Menschen sagen und welche Gefühle sie zeigen. Händchen halten, Massagen, Vorlesen oder Abspielen von Lieblingsgeschichten und Lieblingsmusik sind die besten Möglichkeiten, zu zeigen, dass man da ist und beistehen möchte.
Gute Sauerstoffwerte
Nachdem ich am zweiten Tag nach der OP gute Sauerstoffwerte hatte, konnte meine künstliche Beatmung beendet und auf die natürliche umgestellt werden. Ein weiterer kritischer Moment, den ich aber ohne Probleme schaffte. Ernährt wurde ich künstlich über eine Magensonde, was mir nicht so gut gefiel.
Problematisch in dieser Phase war aber, dass ich so feine Venen habe, dass die Zugänge für die medikamentöse Behandlung immer nur für eine beschränkte Zeit genutzt werden konnten. Ich war ganz schön zerstochen. Neurologische Untersuchungen zeigten, dass meine gesamte linke Körperhälfte gelähmt war.
Harry Potter und ich
Weil ich irgendwie im Raum zwischen (Alb)Traum und Wirklichkeit feststeckte, konnte ich nur fühlen, dass etwas nicht stimmte. Dass mich das sehr aufregte, konnte man an meinen Blutdruckwerten erkennen, die immer wieder in unerwünschte Höhen schossen.
Wie erklärt man einem Kind im künstlichen Koma, was ihm passiert war?
Meine Eltern zogen den Vergleich mit meinem damaligen Helden “Harry Potter”. Ich hätte eine Krankheit gehabt, einen persönlichen Lord Voldemort, von dem wir nichts geahnt hätten. Vom Kampf hätte ich eine Narbe am Kopf. Mein Sieg sei aber noch nicht endgültig.
Auch wenn ich die Hauptlast zu tragen hätte, müsste ich nicht alleine kämpfen. Meine Dumbledore-Armee stünde hinter mir. Wie heißt es so schön: Glück findet man selbst in den dunkelsten Zeiten, wenn sich nur einer erinnert, ein Licht zu entzünden. Es ist das Licht der kleinen Dinge, das am weitesten leuchtet. Wenn man sich am Ende jeden Tages drei Dinge bewusst macht, die am Tag schön gewesen sind, fällt das Durchhalten und Weitermachen leichter. Man ist dankbar und glücklich, wenn man die Dinge zum zweiten Mal ein erstes Mal erleben kann, die man früher für selbstverständlich und ein wenig unbedeutend hielt.
Rehabilitation
Meine Rehabilitation verlief nicht ohne Komplikationen. Wie bei jeder guten Geschichte sorgen Rückschläge dafür, dass der Spannungsbogen erhalten bleibt. So musste z.B. geklärt werden, ob bei der Operation die gesamte AVM beseitigt werden konnte oder ob man noch einmal nachoperieren muss.
Durch hormonelle Umstellungen in der Pubertät kann sich auch eine neue AVM bilden, weshalb ich drei Jahre nach meiner Notoperation noch einmal mit Spannung auf das Ergebnis einer Angiographie der Blutgefäße meines Gehirns wartete.
In der Zeit des künstlichen Komas erlitt ich einen weiteren ischämischen Schlaganfall im Bereich der Basalganglien rechts, der unerkannt und deshalb unbehandelt blieb. Bei meiner Verlegung in die stationäre Rehabilitation hieß es, dass meine Rehabilitation lange dauern würde (stimmt) und ich am Ende froh sein könnte, wenn ich wieder eigenständig schlucken und sprechen könnte (stimmt nicht: Ich laufe, reite und fahre wieder Fahrrad und Ski. In der Kletterwand und beim Schwimmen nutze ich beide Arme und Beine. An der Einzelansteuerung meiner Finger übe ich, wann immer ich im Alltag dazu Zeit finde.)
Fachkräftemangel in der Kinderintensivpflege
Schon vor der Pandemie erlebte ich die Folgen des Fachkräftemangels im Bereich der Kinderintensivpflege am eigenen Leib, weshalb ich eine Woche nach meiner Notoperation auf die Kinderintensivstation einer nächstgelegenen, 30 km entfernten Klinik verlegt wurde.
Obwohl das entnommene Stück meiner Schädeldecke bereits nach 12 Wochen wieder reimplantiert wurde, wurde es von meinem Körper nicht wieder angenommen und mit Nährstoffen versorgt, sodass es aufgrund einer Knochennekrose nach 18 Monaten gegen ein Palacos-Implantat ausgetauscht werden musste.
Reiten und den Führerschein machen
Weil ich mich irgendwie jeder Herausforderung stelle, zähle ich auch zu den 30 % der Schlaganfallbetroffenen, die im weiteren Verlauf der Erkrankung eine Epilepsie entwickeln.
Medikamentös bin ich mittlerweile ganz gut eingestellt. Trotz der lästigen Nebenwirkungen nehme ich die Medikamente regelmäßig ein, weil ich verstanden habe, wie wichtig das ist, um das Auftreten weiterer Anfälle zu vermeiden. Denn mein größtes Unglück ist im Zusammenhang mit der Krankheit, dass ich nach Grand Mals mindestens 6 Monate anfallsfrei bleiben muss, um von meiner Ärztin die Erlaubnis für das Reiten zu bekommen.
Einen PKW-Führerschein würde ich auch gerne machen, aber da spielt nicht nur die Epilepsie eine Rolle, sondern auch die ausreichende Kompensation einer Gesichtsfeldeinschränkung aufgrund der Schlaganfälle.
Freude am Leben – (k)ein Wunder
Bin ich ein Wunder und muss ich als solches etwas Besonderes in meinem Leben erreichen? Ich selbst halte mich nicht für ein solches. Vielmehr beweist meine Überwindung der Folgen meiner Krankheiten, was die moderne Medizin und Rehabilitation aufgrund einer guten Versicherung gepaart mit dem Glauben an sich Selbst und Therapieadhärenz erreichen können.
Etwas Besonderes muss ich auch nicht mehr leisten. Meine besondere Leistung liegt in meiner Freude am Leben, das ich nach meinen Vorstellungen und Regeln führen möchte.
Auch wenn ich nicht wie alle anderen aus meiner Klasse die Nächte durchfeiern kann, freue ich mich auf die Anfang Juli stattfindende Studienfahrt in die Toskana. Trotz meiner eingeschränkten Konzentration und Verlangsamung beim Lesen möchte ich versuchen, Abitur zu machen.
Es ist zwar schade, dass ich im System Schule nicht die Rahmenbedingungen erhalte, meine Fähigkeiten bestmöglich zu zeigen. Aber Inklusion am Gymnasium steckt insbesondere in der Sekundarstufe II noch in den Kinderschuhen. Wie immer kommt es auf den Lehrer an: eine große Freude für mich ist, dass ich einhändig mit meiner Klarinette im Schulorchester mitspielen darf.
Ein Blick in die Zukunft
Wer weiß, was mir die Zukunft bringt. Aber wenn mir die Vergangenheit eines gezeigt hat, dann dass ich die Kraft habe, Schreckliches zu überwinden und dessen Folgen zu akzeptieren, mögliche Veränderungen zu erkämpfen und auch nach Rückschlägen weiterzumachen.
Ich glaube, dass ich immer wusste, dass mir das Leben noch viele schöne Momente zu bieten hat und dass ich mir diese auf keinen Fall entgehen lassen will. Und wenn ich dieses Bewusstsein mit anderen Betroffenen teilen und ein Licht in der Dunkelheit entzünden kann, ist es mein Weg, Dankbarkeit zu zeigen.
Ein Kommentar von Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Die Abkürzung AVM steht für ArterioVenöse Malformation (auch “Blutschwamm” genannt) – eine anlagebedingte Missbildung aus einem Geflecht von Blutgefäßen, welches blutzuführende Arterien mit blutabführenden Venen direkt verbindet. Diese Gefäßmissbildungen können in vielen Organen des Körpers auftreten, sichtbar in der Haut. Sie sind sehr selten. Geschätzt haben etwa 0,05 % der Bevölkerung eine AVM im Gehirn. Das größte Risiko ist eine Hirnblutung.
Meist bleibt eine AVM lebenslang unerkannt ohne Krankheitssymptome. Liegt sie aber im Hirngewebe, können epileptische Anfälle auftreten. Da insbesondere venöse Blutleiter sehr dünnwandig sind, können sie auch ohne äußere Einwirkung platzen und eine Blutung in das Hirngewebe verursachen. Dies ist dann die seltene Ursache eines Schlaganfalls durch eine Hirnblutung, wie sie Sophie erleiden musste.
Sie wollen Ihre eigene Erfahrung mit anderen Lesern teilen? Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen in unserem Forum aus.
- Erfahrungsbericht von Antonia, 22 Jahre aus Berlin
- Erfahrungsbericht: Otto E. – Schlaganfall mit 30 und 36 Jahren
- Die Symptome eines Schlaganfalls
- Rehabilitation nach einem Schlaganfall