Neuroplastizität ▷ Was ist das und wie hilft sie Schlaganfall-Patienten?
In diesem Artikel:
- Was ist Neuroplastizität?
- Kann Neuroplastizität auch schädlich sein?
- Neuronale Plastizität nach einem Schlaganfall
- Strategien zur Verbesserung der Neuroplastizität
Was ist Neuroplastizität?
Unser Gehirn ist in seinen Funktionen nicht statisch, sondern in hohem Maße dynamisch. Diese Eigenschaft wird von Neurowissenschaftlern und Hirnforschern als Neuroplastizität oder auch Hirnplastizität bezeichnet – sie ist der Grund für die Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns.
Sowohl übergeordnete anatomische Strukturen als auch die als Synapsen bezeichneten Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, die der Übertragung eines chemischen oder elektrischen Signals dienen, werden durch intensive Lernprozesse und Erfahrungen verändert.
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Die Anpassungsmechanismen, die der Neuroplastizität zugrunde liegen, umfassen Prozesse auf Ebene der anatomischen Struktur des Nervensystems und der als Neuronen bezeichneten Nervenzellen, bis hin zu den kleinsten Molekülen.1 Der kanadische Neuropsychologe Donald O. Hebb beschrieb die neuronale Plastizität als “dynamische Fähigkeit des Gehirns zur Veränderung von Zellarchitektur, -struktur und -funktion”.2
Es handelt sich demnach um einen hochkomplexen Vorgang, der sich auf sehr vielen Ebenen abspielt. Je intensiver das Gehirn trainiert wird, desto auffälliger sind auch die anatomischen Veränderungen.
Die drei Hauptmechanismen der Neuroplastizität
Die Neuroplastizität gesunder Gehirne beruht auf drei Hauptmechanismen:3
- Nachwachsen von Nervenfasen nach peripherer Nervenschädigung.
- Wiederherstellung von verletzten zentralen Nervenzellen durch das Wachstum neuer Dendriten, Axone und Synapsen aus bestehenden Zellkörpern.
- Umfassende Erzeugung neuer Neuronen in der Keimzone, die neurale Stammzellen enthält und in einem bestimmten Teil des Hippocampus – einer Hirnstruktur, die an der Gedächtnisbildung beteiligt ist.
Formen der Neuroplastizität
In den Neurowissenschaften und der Hirnforschung werden fünf Formen der Neuroplastizität unterschieden: (1) die kortikale neuronale Plastizität, (2) die synaptische neuronale Plastizität, (3) die intrinsische neuronale Plastizität, (4) die kollaterale Axonsprossung und (5) die Vikariation.
Kortikale neuronale Plastizität
Als kortikale neuronale Plastizität wird die Fähigkeit zur Neuorganisation der Hirnrinde nach einer Hirnschädigung und damit die Verbesserung von Hirnfunktionen bezeichnet. Sie umfasst das Ausgleichen von Defiziten aufgrund der Aktivierung und funktionellen Erweiterung nicht von der Verletzung betroffener Areale des Gehirns.2
Diese Form von Neuroplastizität kann aktiv gefördert werden, zum Beispiel im Rahmen einer physiotherapeutischen oder neuropsychologischen Therapie. Diese wird zunächst im Akutkrankenhaus, danach in neurologischen Rehakliniken und auch in der ambulanten Nachsorge eingesetzt.
Die neuropsychologische Behandlung wird vor allem bei Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit angewendet, die durch unfall- oder erkrankungsbedingte Schädigungen des Gehirns entstehen, wie zum Beispiel durch Schlaganfälle, entzündliche Hirnerkrankungen, Hirntumore und Schädel-Hirn-Verletzungen nach einem Unfall.
Synaptische neuronale Plastizität
Mit synaptischer neuronaler Plastizität wird die dynamische bidirektionale Vernetzung von Neuronen bezeichnet, die durch die Anpassungsfähigkeit von Prozessen im prä- und postsynaptischen Teil einer Synapse ermöglicht wird.2 Die Präsynapse übernimmt hierbei die Funktion eines Signal-Senders, die Postsynapse die eines Signal-Empfängers. Die synaptische Plastizität umfasst die Neuschaffung von Synapsen, aber auch die Stabilisierung und die Trennung bestehender interzellulärer Kontakte zwischen den Nervenzellen. Sie bildet das biologische Substrat für das Lernen und die Gedächtnisentwicklung und ist Grundlage der Informationsverarbeitung im Gehirn. Grundsätzlich werden zwei zeitliche Phasen der synaptischen Neuroplastizität unterschieden: (1) Kurzzeit-Plastizität und (2) Langzeit-Plastizität.
Ein Beispiel für die Kurzzeit-Plastizität sind die synaptische Bahnung – auch als synaptische Fazilität bezeichnet – und der funktionell gegengerichtete Prozess, die synaptische Depression.4,5 Dabei werden nach der Aktivität in den präsynaptischen Endigungen – also dem “Sender” – Sekunden bis Minuten lang verstärkt Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, ausgeschüttet. Bei der synaptischen Depression handelt es sich um eine Abschwächung der Signalübertragung an den Synapsen von Nervenzellen.
Zur Langzeit-Plastizität zählen die Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression. Die Langzeitpotenzierung beschreibt eine über Stunden oder Tage andauernde Verstärkung der Signalübermittlung nach einer kurzen Serie von aufeinanderfolgenden Nervenimpulsen – also kurzen Änderungen des Membranpotentials der elektrisch erregbaren Zellen.6 Die Langzeitdepression führt zur Abschwächung der Signalübertragung über einen längeren Zeitraum.
Intrinsische neuronale Plastizität
Die intrinsische neuronale Plastizität erfolgt wie die synaptische Plastizität in beide Richtungen und kommt praktisch in allen Arten von Nervenzellen vor.7 Sie kann lokal auf ein bestimmtes Hirnareal begrenzt sein oder global im ganzen Gehirn stattfinden. Es handelt sich um lang anhaltende Veränderungen der Erregbarkeit von Neuronen aus eigenem Antrieb – der intrinsischen Erregbarkeit.
Kollaterale Axonsprossung
Bei der kollateralen Axonsprossung handelt es sich um eine Extremform der Neuroplastizität. Das Sprießen von Axon-Seitenästen ist von enormer Bedeutung für den Aufbau und die Verfeinerung von Nervenverbindungen während der Entwicklung und Regeneration.
Diese Art von Verzweigung wird vermutlich direkt durch körpereigene Signalstoffe eingeleitet, die zielgerichtete Verbindungen zwischen den Nervenzellen bewirken.8
Man bezeichnet diese Signalstoffe als Neurotrophine. Der neue Faserfortsatz bildet sich hierbei im Bereich des Axons.9 Beim Axon handelt es sich um einen Fortsatz der Nervenzelle, der die elektrischen Nervenimpulse zu anderen Zellen weiterleitet.2
Der Axon-Seitenast kann dann synaptische Verbindungen mit neuen Zielzellen eingehen, die von der Nervenzelle bislang noch nicht erreicht werden konnten. Diese kollaterale Axonsprossung geht nach einer Läsion von den benachbarten intakten Nervenzellen eines geschädigten Hirnareals zu den verletzten Nervenzellen dieses Areals aus.
Durch die Aussprossung erfolgt eine partielle Wiederherstellung der nervalen Versorgung, eine Neuverschaltung und eine funktionelle Anpassung innerhalb der betroffenen Region.10 Die Axonsprossung spielt eine wichtige Rolle bei neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen es zum Funktionsverlust und/oder Untergang von Nervenzellen kommt, wie zum Beispiel bei der Alzheimer-Krankheit.
Vikariation
Die Vikariation – von lateinisch vicarius, Stellvertreter – geht von der Hypothese aus, dass gesunde Hirnareale die Funktion eines geschädigten Hirnareals übernehmen können.11
Vor Eintritt der Schädigung hat der gesunde Bereich des Gehirns keinerlei Einfluss auf den geschädigten Bereich. Der Vikariation sind allerdings Grenzen gesetzt, wie es die bleibenden neurologischen Ausfälle einiger Patienten mit Schädigungen des Zentralen Nervensystems (ZNS) belegen.
Die im Jahr 1877 entwickelte Hypothese der Vikariation geht auf den deutschen Mediziner Hermann Munk zurück und beruht eher auf der ganzheitlichen Betrachtung der Arbeit des menschlichen Gehirns als auf konkreten experimentellen Forschungsergebnissen.
Abgrenzung der Neuroplastizität zur Regeneration
Im Unterschied zur Neuroregeneration handelt es sich bei der Neuroplastizität um den dynamischen Umbau bereits bestehender Synapsen. Die Neuroregeneration kann von geschädigten Nervenzellen ausgehen, solange der Zellkörper eines Neurons intakt ist. Unter diesen Bedingungen ist eine Nerven-Regeneration innerhalb von etwa 3 Monaten möglich.12
Während die Neuroregeneration im peripheren Nervensystem (PNS) von enormer Bedeutung ist, spielt sie im ZNS nur eine untergeordnete Rolle. Grund hierfür sind vor allem das Fehlen entsprechender Wachstumsfaktoren und die zusätzliche Produktion von Hemmstoffen durch die Gliazellen im Gehirn, die die Funktion eines Stützgewebes erfüllen.13
Unterschied zwischen Neuroplastizität und adulter Neurogenese
Während die Neuroplastizität die Umbauprozesse von neuronalen Strukturen beschreibt, bezeichnet die Neurogenese die Neubildung von Nervenzellen beim Erwachsenen. Bislang konnte dieser Prozess beim Menschen nicht eindeutig nachgewiesen werden, sondern nur bei Ratten, Vögeln und kleinen Säugetieren. Das liegt daran, dass noch keine ausreichend spezifischen Biomarker, also messbare charakteristische biologische Merkmale, für die Neurogenese-Prozesse gefunden werden konnten.14
Welchen Zweck erfüllt die Neuroplastizität?
Die Neuroplastizität hat zwei grundlegende Funktionen:
Zum einen bildet sie die Grundlage für jegliche Form von Lernprozess und Gedächtnisbildung. Besonders ausgeprägt ist die Gehirnplastizität zum Beispiel bei professionellen Sportlern und Musikern.15 Das Gehirn reagiert zum Beispiel auf regelmäßige sportliche Betätigung mit funktionellen und strukturellen Anpassungen.
Zum anderen erfüllt sie eine wichtige Rolle beim Kompensieren der eingeschränkten Funktionsfähigkeit nach Schädigungen des Gehirns.
Kann Neuroplastizität auch schädlich sein?
Obwohl Neuroplastizität ein sehr wichtiger Mechanismus ist, der die Grundlage für unser Lernen und die Gedächtnisbildung bildet und nach Gehirnläsionen die Kompensierung von eingeschränkten Hirnfunktionen ermöglicht, kann Neuroplastizität in einigen Fällen auch negative Folgen haben. Man spricht dann von maladaptiver Neuroplastizität. Sie tritt auf, wenn eine durch Neuroplastizität geschaffene Verbindung zu abweichenden oder negativen Symptomen führt.14
Beispiele hierfür sind Phantomschmerzen in den Gliedmaßen und das Auftreten unwillkürlicher Kontraktionen der Hand- und Fingermuskeln bei Musikern und Schriftstellern nach intensivem, längerem Gebrauch.16 Studien deuten darauf hin, dass bei Personen, bei denen solche überlastungsbedingten unwillkürlichen Kontraktionen auftreten, eine abnorme Plastizität der Hirnrinde vorliegt. Diese könnte genetische Ursachen haben.
Ähnliche Phänomene können in einigen Fällen bei Phantomschmerzen nach Amputation beobachtet werden. Der Phantomschmerz als Folge neuronaler Umstrukturierungsprozesse in der sensomotorischen Hirnrinde wurde bereits 1992 durch den Neurologen Vilayanur S. Ramachandran beschrieben.1
Neuronale Plastizität nach einem Schlaganfall
Mit einem Schlaganfall können vielseitige Folgen einhergehen, darunter zum Beispiel Sprachstörungen und Sprechstörungen, Bewegungsstörungen wie die als Hemiparese bezeichnete Halbseitenlähmung oder Spastiken, oder Sehstörungen.
Um das nach einem Schlaganfall überlebende Gewebe wiederherzustellen und die Nervenverbindungen neu zu organisieren, können verschiedene Mechanismen der neuronalen Plastizität aktiviert werden. Es existieren restaurative Therapieansätze, die zum Beispiel auf Gehirn-Computer-Schnittstellen, robotergestützter und virtueller Realität, Gehirnstimulation und Zelltherapien basieren.
Die spontane Plastizität des Gehirns reicht normalerweise nicht aus, um nach einer Hirnschädigung eine deutliche Erholung und Wiederherstellung der gesunden Hirnfunktion zu gewährleisten. Verschiedene pharmakologische und nicht-pharmakologische Strategien zielen daher auf die Verbesserung der neuroplastischen Eigenschaften des Gehirns ab.
Ein Schlaganfall in der linken Hirnhälfte führt bei Erwachsenen zum Beispiel meist zu Sprachstörungen, da sich die Hirnareale für die Sprachfunktionen bei den meisten Menschen in dieser Hirnhälfte befinden. Bei Kindern können die Sprachzentren im Fall einer Läsion aufgrund der hohen Gehirnplastizität in die rechte intakte Hirnhälfte verlagert werden, weshalb ein Sprachverlust verhindert wird.
Leider sinkt jedoch die Fähigkeit zur Neustrukturierung des Gehirns mit zunehmendem Alter. Ab einem Alter von zwei Jahren verschlechtert sich bereits diese Fähigkeit. Ab einem Alter von etwa zehn Jahren bleiben Sprachstörungen, die durch Schädigungen der linken Gehirnhälfte verursacht werden, zu einem großen Teil dauerhaft bestehen.1 Auch wenn Erwachsene nach einem Schlaganfall bis zu einem gewissen Grad wieder genesen, ist eine vollständige Genesung eher unwahrscheinlich und selten.
Bei erwachsenen Schlaganfall-Patientinnen und -Patienten geht eine bessere Spracherholung mit vermehrter linksseitiger Aktivierung einher, wie sie durch eine Neuorganisation innerhalb der vom Infarkt betroffenen Gehirnhälfte – der intrahemisphärischen Reorganisation – auftritt.
Die Medizinerin Dorothee Saur konnte 2006 mittels fMRT-Untersuchungen an 16 Schlaganfall-Patienten zeigen, wie solche Umbauprozesse zeitlich verlaufen.1 In der Akutphase eines Hirninfarkts bricht die Hirnaktivierung, die mit der Sprache einhergeht, zusammen. Nach etwa zwei Wochen beteiligen sich verstärkt diejenigen Sprachzentren, die in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert sind und die Sprachstörungen gehen zurück – allerdings nur kurzfristig. Etwa ein Jahr nach dem Hirninfarkt tritt eine Genesung der linksseitigen Sprachzentren ein, was auf eine Beteiligung der noch intakten Strukturen um den Infarktkern hinweist.
Offenbar tritt eine permanente Verlagerung der Sprachverarbeitung in die rechte als Hemisphäre bezeichnete Hirnhälfte im Erwachsenenalter ausschließlich bei schwersten Hirninfarkten auf und führt zu einer erschwerten, unvollständigen Spracherholung.
Es gibt überzeugende Beweise dafür, dass dieselben Signalwege, die Entzündungsreaktionen auf Verletzungen oder ischämische Schlaganfälle regulieren, auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung, Plastizität und Funktion des Gehirns spielen.17 Bei einem Schlaganfall verändern die als Gliazellen bezeichneten Stützzellen des Gehirns gemeinsam mit peripheren Immunzellen deutlich ihre Aktivität.
Dies führt zur Rekrutierung von Immunzellen in den vom Infarkt betroffenen Bereich. Diese Immunreaktion verursacht einen strukturellen und funktionellen Verlust von Synapsen. Auf diesen folgt letztlich eine Umstrukturierung der neuronalen Netzwerke sowie eine Form der Neuroplastizität, die kollaterale Axonsprossung.
Die Neuroplastizität nach einem Schlaganfall basiert nach aktuellen Erkenntnissen auf drei Hauptmechanismen, in deren Folge es zu einer Neuzuweisung der Funktionen kommt, die durch den Schlaganfall und die Beschädigung der Neuronen eingeschränkt wurden.3 Bereits in frühen Stadien nach einem Schlaganfall werden diese Mechanismen aktiviert und dauern mindestens über drei bis sechs Monate an. Sie führen zu einer Neuorganisation der Nervenverbindungen.
Die drei Hauptmechanismen der Neuroplastizität nach einem Schlaganfall
Beim ersten Mechanismus kommt es zu einer Steigerung der funktionalen Aktivität im die Körperwahrnehmung betreffenden System auf der dem Hirninfarkt gegenüberliegenden Gehirnseite. Darüber hinaus kommt es zur Rekrutierung entfernter Regionen der Hirnrinde, die mit dem betroffenen Gebiet verbunden sind.
Mit dem zweiten Mechanismus wird die Verbesserung der Struktur der die Großhirnrinde und das Rückenmark betreffenden Bereiche auf der vom Infarkt betroffenen Seite des Gehirns bewirkt.
Der dritte Mechanismus führt zu einer Wiederherstellung der funktionellen Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften und der Regenerierung des Gehirnareals, das für die Steuerung des Tastsinns und der willkürlichen motorischen Muskelbewegungen zuständig ist.
Strategien zur Verbesserung der Neuroplastizität
Wie zuvor beschrieben, reicht die spontane Neuroplastizität nach einem Schlaganfall in der Regel nicht aus, um eine deutliche Genesung zu bewirken. Daher werden kontinuierlich Strategien entwickelt, mit denen eine Verbesserung der Neuroplastizität erreicht werden soll. Zu diesen Ansätzen zählen beispielsweise (1) die Zelltherapie und (2) die Hirnstimulation.3
Zelltherapie
Die Zelltherapie beruht auf der Eigenschaft von Stammzellen, sich in mehrere unreife und reife Zelltypen entwickeln zu können und die daher die Fähigkeit besitzen, die Regeneration von geschädigtem Hirngewebe zu fördern. Besonders eine Art von Zellen, die sogenannten mesenchymalen Stammzellen, ist vielversprechend für die Behandlung und Rehabilitation nach Schlaganfällen, da sie selten eine Immunantwort auslösen, leicht verfügbar sind und positive Ergebnisse in Tiermodellen zeigten.
Mehrere Tierstudien belegen, dass die Stammzelltherapie die Gehirnfunktionalität nach einem Schlaganfall erheblich verbessern kann. Bei der zellvermittelten Gehirnreparatur kommt es zu einer Stimulation der Nervenreparatur, Entzündungshemmung und Förderung der erfolgreichen Umstrukturierung und Neuorganisation.
Hirnstimulation
Bei der nicht-invasiven Hirnstimulation handelt es sich um eine weit verbreitete Technik, insbesondere in der Schlaganfall-Rehabilitation. Zwei der prominentesten Arten der Hirnstimulation sind die transkranielle Magnetstimulation, kurz TMS und die transkranielle Gleichstromstimulation, kurz TDCS. Sie bewirken Veränderungen der langfristigen Neuroplastizität und passen lokale und entfernte Netzwerke an, die verschiedenen klinischen Symptomen nach einem Schlaganfall zugrunde liegen.
Die TMS verwendet elektromagnetische Induktion zur Erzeugung eines elektrischen Stroms, der die elektrophysiologische Aktivität von Zellen verändert. Hierbei kommt es zu einer Erregung von Nervenzellen und folglich zu Nervenimpulsen. Die Frequenz der Strompulse kann die Aktivität der Hirnrinde verändern und dadurch die Gehirndurchblutung und Entstehung neuer Blutgefäße fördern. Eine Unterart der repetitiven TMS wurde bereits zur Schlaganfall-Genesung eingesetzt. Die transkranielle Magnetstimulation gilt im Allgemeinen als sichere Methode. Es wurden jedoch auch seltene Nebenwirkungen wie zum Beispiel Krampfanfälle, Kopfschmerzen und Schwindel berichtet.
Bei der TDCS wird ein elektrischer Gleichstrom erzeugt, der die Neuroplastizität stimuliert und die lokale Durchblutung verbessert. Eine hohe Intensität und lange Dauer der TDCS erzielt die vielversprechendsten Ergebnisse bei der Verbesserung von motorischen Funktionen nach einem Schlaganfall, zum Beispiel bei einer Halbseitenlähmung. Die transkranielle Gleichstromstimulation ist im Vergleich zur TMS besser verträglich. Nebenwirkungen treten seltener auf und verlaufen milder. Sie umfassen dosisabhängige Hautrötungen, leichtes Kribbeln, Schwindel und Müdigkeit.
Wie kann man Neuroplastizität nachweisen?
Die Untersuchung der Neuroplastizität am menschlichen Gehirn erfolgt fast ausschließlich mittels bildgebender Verfahren, da invasive Untersuchungsmethoden nur in seltenen Ausnahmefällen zulässig sind.
Geeignete Bildgebungsverfahren umfassen zum Beispiel die funktionelle und die strukturelle Magnetresonanztomographie, kurz fMRT und sMRT. Aber auch moderne Varianten der Elektroenzephalographie, kurz EEG, und die Magnetenzephalographie, kurz MEG, ermöglichen die Untersuchung der Gehirnplastizität.
Wissenswertes zur Neuroplastizität
Der erste Mensch, der den Begriff Plastizität im Zusammenhang mit den neurophysiologischen Prozessen des Lernens und der Gedächtnisbildung geprägt haben soll, war der US-amerikanische Psychologe William James (1842 – 1910).1 Später beschrieb der polnische Physiologe Jerzy Konorski (1903 – 1979) dann die ersten neurowissenschaftlichen Untersuchungen zum Lernen. Obwohl der kanadische Neuropsychologe Donald O. Hebb (1904 – 1985) als Begründer der modernen Plastizitätsforschung im angloamerikanischen Sprachraum gilt, erschien dessen Abhandlung zur “Organisation des Verhaltens” erst im Jahr 1949.
Neuroplastizität ermöglicht Bemerkenswertes: Mittels Kernspintomographie kann beispielsweise die Neuorganisation der Nerven-Netzwerke bei Patienten mit einem eingegipsten Arm nachgewiesen werden. Die Hirnrinde wird in den Arealen, die üblicherweise in die sensomotorische Kontrolle des eingegipsten Arms involviert sind, dünner – in Arealen zur Steuerung der Motorik des nicht eingegipsten Arms in der anderen Gehirnhälfte hingegen dicker.1
Interessanterweise zeigt sich in fMRT-Studien eine effizientere neuronale Verarbeitung durch eine geringere Durchblutung der spezialisierten Hirnareale. Wissenschaftler schließen daraus, dass Experten zur Ausübung und Kontrolle ihrer spezialisierten Tätigkeit weniger Neuronen benötigen als Amateure. EEG-Analysen legen nahe, dass die Neuronenaktivität in diesem Fall besser miteinander koordiniert ist.1
Die Festigung entscheidender Nervenverbindungen erfolgt zum großen Teil bereits in sogenannten kritischen Phasen der Kindheit. Nur wenige solcher Phasen finden sich noch im Erwachsenenalter. Werden diese Phasen nicht genutzt, kann das gravierende Folgen haben, wie etwa Seh- oder Sprechstörungen. Studien an Tieren und Menschen konnten jedoch zeigen, dass die kritischen Phasen zu späteren Zeitpunkten noch einmal aktiviert werden können.
Wissenschaftler fanden heraus, dass ein Botenstoff, der normalerweise eine hemmende Wirkung auf Nervenzellen hat, im Zusammenspiel mit anderen Stoffen daran beteiligt ist, Beginn und Ende der kritischen Phasen zu kontrollieren. Bei diesem Botenstoff handelt es sich um die Gamma-Aminobuttersäure, die auch unter der Abkürzung GABA bekannt ist.
Durch Verstärkung der GABA-Signalwege anhand einer Substanz aus der Gruppe der Benzodiazepine können bereits an Versuchstieren unter Laborbedingungen Beginn und Dauer einer kritischen Phase gesteuert werden – ein Meilenstein für die Erforschung von Therapieansätzen zur Behandlung neurologischer Entwicklungsstörungen.
Besonders auffällig zeigt sich das Phänomen der Neuroplastizität auch bei frischgebackenen Eltern, denn das Gehirn passt sich offenbar der neuen Herausforderung an. Bereits während der Schwangerschaft schrumpft die graue Hirnsubstanz in bestimmten Bereichen und nach der Geburt finden Umbauten in Hirnarealen statt, die für die Kontrolle der Aufmerksamkeit und für das Belohnungssystem zuständig sind.
Studien mittels funktioneller Magnetresonanztomographie liefern Hinweise darauf, dass ein nach der Geburt verstärkt gebildetes Hormon namens Oxytocin für die Sensibilisierung der Hirnschaltkreise bei Frauen zuständig ist, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig sind und die die Motivation und Empathie steigern. Zu diesen zählt vor allem das limbische System. Auch strukturell durchläuft das weibliche Gehirn mit Schwangerschaft und Geburt einige Änderungen. Den Rückgang der grauen Hirnsubstanz in bestimmten Bereichen deuten Wissenschaftler als Neuordnung der neuronalen Verbindungen.
Was von den meisten als Schwäche angesehen wird, ist ein entscheidender Bestandteil des Gedächtnisses und ebenfalls Folge von Neuroplastizität: Das Vergessen.1 Um den sich ständig verändernden Umweltbedingungen gerecht zu werden, ist es von essentieller Bedeutung, dass Menschen nicht nur lernen, sondern auch Gelerntes wieder vergessen. In den meisten Fällen werden nur irrelevante Dinge vergessen, wie etwa, welches Gericht es vor einem Monat zum Mittagessen gab.
Das Vergessen ist von enormer Relevanz für das abstrakte Denken, die Fähigkeit zur Problemlösung, aber auch die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Bislang ist allerdings nicht vollständig geklärt, ob das Vergessen gleichbedeutend mit dem Löschen von Erinnerungen ist oder ob lediglich die Erinnerungen schwerer zugänglich werden.
Ein wichtiger Mechanismus für das Vergessen ist die unter der synaptischen neuronalen Plastizität im Artikel beschriebene Langzeitdepression. Dass das Nicht-Vergessen zu ernsthaften Erkrankungen führen kann, zeigt die posttraumatische Belastungsstörung, die nach besonders traumatischen Erlebnissen auftreten kann.
Die Neuroplastizität ist auch auf lange Sicht ein vielseitiges und spannendes Forschungsfeld, das unter anderem bedeutende Erkenntnisse für neuartige Therapieansätze zur Behandlung diverser neurodegenerativer Erkrankungen bereithält.
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Autoren
Dipl.-Biol. Claudia Helbig unter Mitarbeit von Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen
Claudia Helbig ist Diplom-Human- und Molekularbiologin und hat zuvor eine Ausbildung zur Arzthelferin absolviert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Biochemie und Molekularbiologie hat sie Medizinstudenten in Pathobiochemie-Seminaren und Praktika betreut. Nach Ihrer Arbeit in der pharmazeutischen Forschung hat sie in einem Auftragsforschungsinstitut für klinische Studien unter anderem Visiten mit Studienteilnehmern zur Erhebung von Studiendaten durchgeführt und Texte für die Website verfasst. Mit ihrem interdisziplinären Hintergrund und ihrer Leidenschaft zu schreiben möchte sie naturwissenschaftliche Inhalte fachlich fundiert, empathisch und verständlich an Interessierte vermitteln. [mehr]
Quellen
- Spektrum Kompakt: Neuroplastizität – Formbares Gehirn (09/2020) – Autoren: Jähnke, Lutz; Lorenzen, Anna; Hensch, Takao K.; von Hopffgarten, Anna; Deeg, Janosch; Korte, Martin; Langosch, Nele; Wolf, Christian; Nissen, Christoph; Kuhn, Marion – Publikation: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH; Ausgabe 09/2020 vom 02.03.2020 – ASIN: B085PPX4MB
- Pschyrembel Klinisches Wörterbuch; 266. aktualisierte Auflage; 2014 – Autoren: Pschyrembel, Willibald; Arnold, Ulrike – Publikation: Walter de Gruyter & Co. Verlag; Berlin
- New approaches to recovery after stroke – Autoren: Marín-Medina, Daniel S.; Arenas-Vargas, Paula A.; Arias-Botero, Juan C.; Gómez-Vásquez, Manuela; Jaramillo-López, Manuel F.; Gaspar-Toro, Jorge M. – Publikation: Neurological Sciences: Official Journal of the Italian Neurological Society and of the Italian Society of Clinical Neurophysiology, Bd. 45, Nr. 1, 2024, S. 55–63 – DOI: 10.1007/s10072-023-07012-3
- Lexikon der Neurowissenschaft: Bahnung (abgerufen am 20.08.2024) – Publikation: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH – URL: https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/bahnung/1237
- Physiologie, 9. Auflage (2019) – Autoren: Pape, Hans-Christian; Kurtz, Armin; Silbernagl, Stefan – Publikation: Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2019
- Lexikon der Neurowissenschaft: Langzeitpotenzierung (abgerufen am 20.08.2024) – Publikation: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH – URL: https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/langzeitpotenzierung/6911
- Plasticity of intrinsic neuronal excitability – Autoren: Debanne, Dominique; Inglebert, Yanis; Russier, Michaël – Publikation: Current Opinion in Neurobiology, Bd. 54, 2019, S. 73–82 – DOI: 10.1016/j.conb.2018.09.001 PMID: 30243042
- Localized Sources of Neurotrophins Initiate Axon Collateral Sprouting – Autoren: Gallo, Gianluca; Letourneau, Paul C. – Publikation: The Journal of Neuroscience, Bd. 18, Nr. 14, 1998, S. 5403–5414 – DOI: 10.1523/JNEUROSCI.18-14-05403.1998
- Lexikon der Neurowissenschaft: Aussprossen (abgerufen am 20.08.2024) – Publikation: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH – URL: https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/aussprossen/1129
- Axonsprossung im Zentralnervensystem nach einer Läsion – Autoren: Dellerund, Thomas; Jucker, Mathias – Publikation: e-Neuroforum, Bd. 7, Nr. 1, 2001, S. 11–20 – DOI: 10.1515/nf-2001-0104
- Neurologische Rehabilitation: 115 Tabellen – Autoren: Nelles, Gereon; Ackermann, Hermann – Publikation: Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2004 – ISBN: 978-3-13-136261-2
- Regeneration von Nervenfasern, Stand: 31.05.2024 (abgerufen am 21.08.2024 – URL: https://viamedici.thieme.de/lernmodul/546343/530399/regeneration+von+nervenfasern
- Axonal Regeneration: Underlying Molecular Mechanisms and Potential Therapeutic Targets – Autoren: Akram, Rabia; Anwar, Haseeb; Javed, Muhammad Shahid; Rasul, Azhar; Imran, Ali; Malik, Shoaib Ahmad; Raza, Chand; Khan, Ikram Ullah; Sajid, Faiqa; Iman, Tehreem; Sun, Tao; Han, Hyung Soo; Hussain, Gulam – Publikation: Biomedicines, Bd. 10, Nr. 12, 2022 – DOI: 10.3390/biomedicines10123186
- Neuroplasticity (abgerufen am 21.08.2024) – Autoren: Puderbaugh, Matt; Emmady, Prabhu D. – Publikation: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing 2024 – URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK557811/
- Neuronale Plastizität im Kontext Sport: Die Rolle des Gehirns bei unterschiedlichen motorischen Leistungsvoraussetzungen (2017) – Autor: Seidel-Marzi, Oliver – URL: https://www.spowi.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3%A4t_Spowi/01_LSB_Leipziger_Sportwissenschaftliche_Beitr%C3%A4ge/Documents/LSB-Heft_2017_2/180_Seidel__2_2017.pdf
- Plasticity in the developing brain: Implications for rehabilitation (2009) – Autor: Johnston, Michael V. – Publikation: Developmental Disabilities Research Reviews, Bd. 15, Nr. 2, 2009, S. 94–101 – DOI: https://doi.org/10.1002/ddrr.64
- Changes in Neuroimmunological Synapses During Cerebral Ischemia (2024) – Autoren: Bitar, Lynn; Puig, Berta; Oertner, Thomas G; Dénes, Ádám; Magnus, Tim – Publikation: Translational Stroke Research, 2024 – DOI: 10.1007/s12975-024-01286-1