Affektinkontinenz ▷ Warum muss ich grundlos weinen oder lachen?
In diesem Artikel:
- Was ist ein Affekt?
- Was bedeutet Affektlabilität bzw. Stimmungsschwankung?
- Was bedeutet Affektinkontinenz?
- Häufigkeit und Ursachen einer Affektinkontinenz
- Neurologische Ursachen
- Affektinkontinenz oder Depression?
- Was können Sie und Ihre Angehörigen tun?
- Soll ich einen Arzt aufsuchen?
- Was kann der Neurologe tun?
Bei Schlaganfall-Patienten können plötzliche, unkontrollierbare Gefühlsausbrüche auftreten, die nicht zur aktuellen Stimmungslage passen oder durch Außeneinflüsse provoziert wurden.
So kann es beispielsweise vorkommen, dass der Betroffene plötzlich anfängt zu weinen, obwohl er eigentlich nicht traurig ist. Aber auch andere Affekte wie Lachen oder Aggressionen können unvermittelt aus dem Betroffenen herausbrechen.
Auch bei einem gesunden Menschen können die Gefühle zuweilen “durchgehen”, doch danach fühlt er sich meist besser und erleichtert. Menschen, die an Affektinkontinenz leiden, spüren diese Erleichterung nicht. Zudem sind sie nicht oder nur wenig in der Lage, die Dauer oder Intensität ihres Gefühlsausbruchs zu kontrollieren.1
Sowohl für Patienten als auch für ihr soziales Umfeld stellt das eine belastende Situation dar. Daher ist es wichtig, Antworten zu erhalten, zu verstehen, was sich hinter den Begriffen “Affekt”, “”Affektlabilität” und “Affektkontinenz” verbirgt.
Was ist ein Affekt?
Ein Affekt ist eine zeitlich kurze, vorübergehende und intensive Gefühlsregung (z.B. bei Freude oder Wut), meist als Reaktion auf ein äußeres Ereignis. Auch seelische Erschütterungen können zu plötzlichen Gefühlsregungen führen, wie starkes Erschrecken, Weinen oder auch Lachen. Oft ist ein Affekt mit “normalen” (physiologischen) Begleiterscheinungen verbunden, wie Schwitzen, Gesichtsrötung, Zittern und muskulärer oder seelischer Anspannung.
Begrifflich wird der Affekt von anderen Gefühlsregungen wie Stimmung, Emotion oder allgemein dem Gefühl abgegrenzt. Affekte gehören somit zum normalen Ausdruck eines Menschen und sind Merkmal der individuellen Persönlichkeit.
Was bedeutet Affektlabilität bzw. Stimmungsschwankung?
Synonyme: Im Zusammenhang mit der Affektlabilität werden die Begriffe “affektive Labilität”, “Stimmungslabilität” verwendet.
Affektlabilität wird durch geringfügige Reize aus der Umwelt ausgelöst. Dabei sind Menschen von plötzlichen und teils starken Schwankungen der psychischen Grundstimmung betroffen. So beispielsweise ein Weinen bei der Konfrontation mit einem traurigen Ereignis, bei anrührender Musik oder, ganz banal, wenn die deutsche Nationalmannschaft ein Tor schießt. Auch die Neigung zu Wutausbrüchen oder Jähzorn ist Ausdruck einer erhöhten Affektlabilität. Die Stimmungsschwankung ist dem Betroffenen zwar bewusst, wird aber nicht als peinlich oder krankhaft wahrgenommen. Anders verhält es sich bei der Affektinkontinenz.
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Was bedeutet Affektinkontinenz?
Synonym: Im Zusammenhang mit der Affektinkontinenz wird der Begriff “Pseudobulbäre Affektstörung” (PBA) verwendet.
Eine Affektinkontinenz ist eine krankheitsbedingte Verminderung der Steuerungsfähigkeit von Gefühlsäußerungen. Sie können in ihrem Ausmaß vom Betroffenen nicht oder nur eingeschränkt kontrolliert werden. Für das persönliche Umfeld des Betroffenen können sie irritierend oder gar verletzend sein.
Bei folgenden Erkrankungen findet sich häufig eine Affektinkontinenz:
- Schlaganfall
- Demenz
- Alkoholmissbrauch
- Hirnverletzungen
- Multiple Sklerose
- u.a.
Hauptmerkmale einer Affektinkontinenz sind somit:
- die ausgedrückten Gefühlsregungen passen nicht zur Situation
- die ausgedrückten Gefühle entsprechen nicht den empfundenen Gefühlen
- Dauer und Intensität des Gefühlsausbruchs können nicht kontrolliert werden
- keine Erleichterung nach dem Gefühlsausbruch
Häufigkeit und Ursachen einer Affektinkontinenz
Man geht davon aus, dass zwischen 20 und 50 Prozent der Schlaganfallpatienten an Affektinkontinenz leiden.1,2 Die exakte Zahl ist schwer zu ermitteln, da viele Patienten, die an Affektinkontinenz leiden, fälschlicherweise als depressiv oder überhaupt nicht diagnostisch eingeordnet werden. Aber auch andere Krankheiten, die mit Schädigungen des Gehirns einhergehen, können eine Affektinkontinenz zur Folge habe. Dazu gehören u.a. Multiple Sklerose oder Demenz.3
Neurologische Ursachen
Man geht davon aus, dass eine Affektinkontinenz durch eine Schädigung der sog. Raphe-Kerne-Gruppen von Nervenzellen im Hirnstamm – ausgelöst wird. Die Raphe-Kerne produzieren im zentralen Nervensystem den Botenstoff (Neurotransmitter) Serotonin, der vielfältige Funktionen des Gehirns beeinflusst.
Beispiele sind die Wahrnehmung, der Schlaf, die Temperaturregulation, die Schmerzempfindung und -verarbeitung u.a.
Serotonin hat auch Einfluss auf die Stimmungslage. Es vermittelt ein Gefühl der inneren Ruhe, Gelassenheit und Zufriedenheit. Deshalb wird Serotonin auch als “Glückshormon” bezeichnet. Es unterdrückt Angstgefühle, Aggressivität, seelischen Schmerz oder das Hungergefühl. Auch depressive Verstimmungen lassen sich häufig auf einen Mangel an Serotonin zurückführen.2,4
Eine weitere Annahme ist, dass durch einen Schlaganfall Verbindungen zwischen unterschiedlichen Teilen des Gehirns beschädigt werden. Von der Entstehung bis zum Ausleben eines Affekts oder einer Emotion läuft dieser Prozess über viele unterschiedliche Stationen im Gehirn, unter anderem im Kleinhirn und im Großhirn.
Das Großhirn repräsentiert dabei unser Bewusstsein. In den meisten Fällen können wir bewusst entscheiden, welche Gefühle wir zeigen wollen und welche wir lieber unterdrücken. Das Großhirn hat also das letzte Wort. Ist nun aber der “Kreislauf” zwischen Klein- und Großhirn gestört, kann es sein, dass die Befehle des Großhirns nicht mehr ankommen und das Kleinhirn zufällige Affekte und Emotionen freisetzt, die der Betroffene dann nicht mehr bewusst kontrollieren kann.1
Affektinkontinenz oder Depression?
Gefühlsausbrüche? Stimmungsschwankungen? Das können auch Symptome einer Depression sein. Wie gelingt die Unterscheidung von einer Affektinkontinenz? Es gibt zwei deutliche Hinweise, welche die Unterscheidung ermöglichen.
Affekt oder depressive Verstimmung?
Ein deutlicher Hinweis auf eine Affektinkontinenz ist, wenn der Affekt und die Stimmung nicht übereinstimmen. Es kann also vorkommen, dass ein eigentlich zufriedener Patient ohne Vorwarnung in Tränen ausbricht. Das geschieht nicht aus einer traurigen Stimmung heraus.
Auch ein Patient, der an Depressionen leidet, kann plötzlich in Tränen ausbrechen. In diesem Fall ist der Gefühlsausbruch allerdings mit einer niedergeschlagenen Stimmung verbunden.
Sekunden oder Monate? Dauer einer Affektinkontinenz
Die Symptome der Affektinkontinenz dauern meist nur wenige Sekunden bis Minuten. Eine Depression hingegen kann sich über Monate hinziehen. Fühlt sich der Patient also zwischen den Gefühlsausbrüchen nicht niedergeschlagen, hoffnungslos oder depressiv, kann man davon ausgehen, dass er an einer Affektinkontinenz leidet.1
Was können Sie und Ihre Angehörigen tun?
Den ersten und wichtigsten Schritt haben Sie schon getan. Sie informieren sich. Das Wichtigste für Sie und Ihre Angehörigen ist, sich vor Augen zu führen, dass es sich bei der Affektinkontinenz um den Ausdruck einer körperlichen Erkrankung handelt. Es ist nicht mehr möglich, die Affekte zu kontrollieren.
Wenn Sie als Angehöriger sicher sind, dass eine Affektinkontinenz vorliegt, versuchen Sie sich klarzumachen, dass die Gefühlsausbrüche weder mit der wirklichen Stimmung oder dem Charakter noch mit Ihnen zu tun haben. Je mehr Sie diese Eigenart akzeptieren und miteinander reden, desto besser.
Hier einige Tipps:
- Fragen Sie den Betroffenen in einer ruhigen Minute, welche Wünsche er hinsichtlich Ihres Verhaltens während und nach seinen Gefühlsausbrüchen hat. Will er beispielsweise allein gelassen werden oder an die frische Luft gehen?
- Zeigen Sie ihm, dass er sich vor Ihnen nicht zu schämen braucht und dass Sie trotz aller Veränderungen an seiner Seite sind.
- Reagieren Sie möglichst ruhig, auch wenn es schwerfällt. Versuchen Sie, nicht zu erwidern.
Affektinkontinenz ist für Sie als Betroffener besonders schwer zu akzeptieren. Vor allem, weil zwischen den Gefühlsausbrüchen alles normal zu sein scheint. Es entsteht das Gefühl des Versagens, wenn Sie Ihre Affekte plötzlich nicht mehr unter Kontrolle haben.
Seien Sie also verständnisvoll zu sich selbst und schämen Sie sich nicht für die Gefühlsausbrüche. Es ist nicht Ihre Schuld oder eine Veränderung Ihres Charakters.
Hilfreich kann es sein, wenn Sie auch Ihr erweitertes Umfeld – z.B. Ihren Arbeitgeber – über Ihr Problem informieren, damit es im Fall der Fälle vorbereitet ist.
Soll ich einen Arzt aufsuchen?
In jedem Fall sollten Sie, wenn Ihnen ungewohnte und verstörende Gefühlsausbrüche nach dem Schlaganfall auffallen, einen Neurologen aufsuchen. Er wird herausfinden, ob es sich bei Ihnen tatsächlich um eine Affektinkontinenz handelt.
Was kann der Neurologe tun?
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie durch die ungewollten Gefühlsausbrüche in Ihrem täglichen Leben zu sehr belastet werden, kann der Neurologe Ihnen Medikamente verschreiben, die Linderung verschaffen können.
Die Affektinkontinenz wird mit Medikamenten, welche auch bei depressiven Verstimmungen verschrieben werden (sog. Antidepessiva), behandelt. Überwiegend werden sog. Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) eingesetzt.2,4
Sie haben eine Frage zur Affektinkontinenz? Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen in unserem Forum aus.
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autoren
unter Mitarbeit von stud. med. Katharina Püchner
Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurozentrum Ravensburg. Als Chefarzt leitete er die Abteilung für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Diagnostik und Behandlung von Schlaganfällen. [mehr]Sie erhalten von uns regelmäßig und kostenlos aktuelle Informationen rund um den Schlaganfall.
Quellen
- Pseudobulbar Affect Versus Depression: Issues in Diagnosis and Treatment – Autoren: Jeannie D. Lochhead, MD, Gerald A. Maguire, MD, Michele A. Nelson, MD – Publikation: Psychiatric Times Vol 35, Issue 7 – URL: https://www.psychiatrictimes.com/view/pseudobulbar-affect-versus-depression-issues-diagnosis-and-treatment
- Treatment of Uncontrolled Crying After Stroke – Autorin: Grethe Andersen – Publikation: Drugs & Aging volume 6, pages105–111(1995) – DOI: 10.2165/00002512-199506020-00003
- Affektinkontinenz – Autor: Karl C. Mayer, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse – Publikation: Neuro24 – URL: http://www.neuro24.de/show_glossar.php?id=44
- Serotonin 5HT1A receptor availability and pathological crying after stroke – Autoren: M. Møller G. Andersen A. Gjedde – Publikation: Acta Neurologica Scandinavica – DOI: 10.1111/j.1600-0404.2007.00869.x