Neurologische Physiotherapie nach Schlaganfall – Einsatzmöglichkeiten anhand von Beispielen ▷ Rehabilitation
Mein Name ist Helmut Gruhn. Seit über 35 Jahren arbeite ich als Physiotherapeut fast ausschließlich mit Schlaganfall-Betroffenen und wende dabei das Bobath-Konzept an.
Ausgebildet wurde ich direkt vom Ehepaar Bobath und von Pat M. Davies, der Autorin mehrerer Bobath-Standardwerke. Als Bobath-Instruktor habe ich in mehr als 100 dreiwöchigen Kursen Ergo- und Physiotherapeuten zu Neurofachtherapeuten ausgebildet und war als Supervisor in mehreren neurologischen Kliniken tätig.
Anhand einiger Beispiele möchte ich aufzeigen, welche Möglichkeiten die neurologische Physiotherapie bei der Behandlung von Schlaganfall-Betroffenen bietet.
Neurologische Physiotherapie wirkt über den Körper auf das Gehirn
Das Bobath-Konzept basiert auf der Fähigkeit des Gehirns, sich bei entsprechender Stimulation neu zu organisieren. Dabei werden Aufgaben von geschädigten Teilen des Gehirns von anderen Teilen übernommen. So können verloren gegangene Fähigkeiten wieder erlernt werden.
Damit das funktioniert, müssen sich Therapeuten und Schlaganfall-Betroffene vertrauen. Ein persönlicher und zugleich professioneller Kontakt, der die Mitarbeit der Betroffenen fordert und fördert, geht Hand in Hand mit Hilfestellungen und aktiver Mobilisierung durch den Therapeuten.
Leistungsgrenzen werden ermittelt, Fortschritte gemessen, die Hilfen daran angepasst und bei Fortschritten nach und nach abgebaut.
Neurologische Physiotherapie beeinflusst alle Körperfunktionen
Bobath ist ein ganzheitliches Behandlungskonzept. Ziel ist die Wiederherstellung einer normalen, reibungslosen und beschwerdefreien Funktion des Körpers. Die Behandlung wirkt auf Muskeln, Sehnen, Knochen, Atmung, Kreislauf und Psyche.
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Den Alltag wieder selbstständig bewältigen
Am Anfang aller Bemühungen steht die Wiederherstellung der einfachsten Grundfähigkeiten. Dazu gehören schmerzfreies Liegen, Aufstehen, Gehen, Treppensteigen, eigenständiges Anziehen, Essen, Trinken und der Gang zur Toilette.
Das klappt manchmal erstaunlich schnell, kann aber auch ein jahrelanger Kraftakt sein.
Die bekannte Sportreporterin Monica Lierhaus beispielsweise brauchte 12 Jahre Physiotherapie, um wieder ohne Hilfe vom Boden aufstehen zu können. Doch Aufgeben kam für sie nie in Frage. Und sie hat sich sofort neue Ziele gesetzt. Ihr Durchhaltevermögen ist bewundernswert, inspiriert andere und macht Betroffenen Mut.
Stehen und Gehen lernen
Ein Schlaganfall hat oft eine Veränderung der gesamten Körperhaltung zur Folge.
Viele meiner Patienten stehen immer gebeugt. Der Verlust des Vertrauens in den eigenen Körper beeinträchtigt Bewegungen und erzeugt Beschwerden.
Es ist viel Zeit, Geduld und Training nötig, bis die Betroffenen wieder aufrecht stehen und gehen können. Die Bewältigung solcher scheinbar einfachen Aufgaben ist unerlässlich, um den Alltag aktiv, selbstständig und schmerzfrei zu gestalten.
Aufstehen, Sitzen, Trinken üben
Ziel der Bobath-Therapie ist ein Höchstmaß an Alltagsorientierung.
Einer meiner Patienten wollte Silvester unbedingt wieder mit einem Glas Champagner in der Hand auf dem Barhocker seines Lieblingshotels feiern. Also ließ ich exakt den gleichen Barhocker liefern, wir übten … und nach viel gemeinsamem Training klappte alles: der Wechsel vom Rollstuhl auf den Hocker, das Trinken aus dem Champagnerglas und die würdevolle Rückkehr in den Rollstuhl.
Die wichtige Rolle der Psyche einbeziehen
In einem Seminar traf ich eine Frau, die seit 20 Jahren davon träumte, ohne Hilfe aus einem Glas Wasser trinken zu können. Ich setzte mich neben sie, hielt meine Hand in engem Abstand direkt neben ihre Hand und bat sie, es zu versuchen. Anfangs zitterte sie, aber es gelang ihr gleich beim ersten Versuch – ein magischer Moment! Meine Nähe vermittelte Sicherheit, sie fühlte sich ermutigt.
In einem anderen Fall begleitete ich einen Patienten auf einer Feier. Er konnte frei gehen und locker Freunde begrüßen, solange ich direkt neben ihm war. Doch sobald der Abstand etwas größer wurde, war es mit der Sicherheit sofort vorbei! Wir nutzten dieses Erlebnis dann als Motivation, seine Selbständigkeit weiter zu fördern, damit er lernt, sich auch ohne meine unmittelbare Nähe sicher zu fühlen.
Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Therapeut und Patient ist sehr wichtig, gerade weil ein Schlaganfall das Selbstbild und das Vertrauen in eigene Fähigkeiten erschüttern kann.
Die Betroffenen sind dadurch verunsichert und verängstigt und reagieren umso sensibler auf kleinste Signale. Und das zeigt sich individuell sehr unterschiedlich: Was bei dem einen Therapeuten nicht funktioniert, klappt bei dem anderen auf Anhieb.
Es geht also nicht nur darum, Patienten zu unterstützen, sondern sie zu ermutigen, auf ihre eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und sich mehr zuzutrauen. So rückt das Ziel, Unabhängigkeit und Lebensqualität Schritt für Schritt zu verbessern, in greifbare Nähe.
Fähigkeiten zur Freizeitgestaltung wiederherstellen
Nicht nur die Bewältigung des Alltags, auch die Ausübung von Hobbys spielt für die Zufriedenheit eine wichtige Rolle. Daher wird in der neurologischen Physiotherapie ebenfalls daran gearbeitet, die Freizeit unter Berücksichtigung der Einschränkungen aktiv zu gestalten.
Ich erinnere mich an einen Schlaganfall-Betroffenen, der schwerfällig am Stock ging und Schienen an einem Arm und Bein trug. Trotzdem spielte er erfolgreich Golf. Ich begleitete ihn auf einer Runde, arbeitete mit ihm an der Optimierung seiner Bewegungsabläufe … und so wurde er in Namibia sogar Landesmeister in der Kategorie „Senioren“!
Motorrad und Fahrrad fahren
Der Weg zum Erfolg ist oft lang und beschwerlich. Einem Motorradfahrer, den der Schlaganfall in den Rollstuhl befördert hatte, konnte ich schließlich zumindest die Fahrt eines Motorrades mit Beiwagen ermöglichen. (Erfahrungsbericht lesen)
Einem passionierten Radfahrer ermöglichte ich nach einer Woche Intensivtherapie die Mitfahrt auf einem Tandem. Enorme Fortschritte!
Und natürlich arbeite ich mit beiden weiter, damit hoffentlich auch das Fahren mit einem normalen Motorrad und Fahrrad wieder möglich wird. Doch leider gibt es bei der Therapie von Schlaganfall-Betroffenen keine Erfolgsgarantie! Umso wichtiger ist es, wie die Betroffenen selbst mit ihren Erfolgen und Misserfolgen umgehen.
Motiviert sein ist gut, optimistisch bleiben besser
Manchmal sind Therapie-Erfolge zweitrangig. Eine Patientin von mir war eine Powerfrau, eine Perfektionistin. Sie machte in der Therapie große Fortschritte, die teilweise fast an ein Wunder grenzten. Dennoch war sie nie zufrieden. Auch ihr Mann und ihre Kinder sahen nicht die Erfolge, sondern nur die weiterhin bestehenden Einschränkungen, die verminderte Leistungsfähigkeit, die sie als „Faulheit“ interpretierten.
Das Gegenteil erlebte ich bei einem alleinstehenden Beamten, der nach einem Schlaganfall einen merkwürdig abstehenden Arm hatte und nicht mehr Auto fahren konnte. Selbst eine intensive Therapie brachte kaum Besserung. Trotzdem blieb dieser Mann immer positiv, akzeptierte seine Einschränkungen und wirkte auf mich stets glücklich und zufrieden.
Am Ende entscheiden nicht die Fähigkeiten und Erfolge über unser Glück, sondern die Einstellung, mit der wir uns den Aufgaben des Lebens stellen.
Beschwerdefreie Lagerung
Es gibt Fälle nach einem Schlaganfall, bei denen in der Folge sogar das Liegen zu Beschwerden führt.
Bei einer 90-jährigen Patientin im Hausbesuch erwarteten der junge, motivierte Arzt und die Angehörigen von mir, dass ich sie wieder mobilisiere. Als ich ihr jedoch in die Augen sah, spürte ich ihr Unbehagen und wusste, was zu tun war. Ich sorgte für eine bequeme Lagerung im Bett, die ruhiges Atmen und schmerzfreies Liegen ermöglichte. Eine Woche später ist sie friedlich eingeschlafen. Auch das gehört zu den Aufgaben der neurologischen Physiotherapie.
Lebensqualität steigern
In einem anderen Fall ging es um einen jüngeren Patienten, die noch einige Jahre vor sich hatte. Auch hier bereitete selbst das Liegen Beschwerden. „Es geht nicht“ war in diesem Fall schlicht keine Option. Über den Tag verteilt wurden Positionen gewechselt zwischen liegen, am Tisch und im Rollstuhl sitzen und am Haltegriff stehen.
Unmengen von Kissen und anderen Stabilisierungshilfen kamen zum Einsatz. Dies erforderte eine eng getaktete und gut koordinierte physiotherapeutische und ergotherapeutische Betreuung, gerade am Anfang, als jeder Positionswechsel noch Unfallgefahr barg.
Kontinuierliches „Training“ ist in einem solchen Fall keine Anstrengung, sondern die einzig sinnvolle Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Nur so lässt sich eine dauerhafte, unerträgliche Immobilität vermeiden.
Die umfangreichen Hilfen sind anfangs notwendig, können aber nach und nach reduziert werden. Und genau das ist letztlich das Ziel der neurologischen Physiotherapie: das Vertrauen in den eigenen Körper wiederzugewinnen und zu erneuern, für mehr Selbstständigkeit und Lebensqualität!
- Was Betroffene über Physiotherapie nach der klinischen Reha wissen sollten
- Physiotherapie nach Schlaganfall – Zeitplan für den Neustart
- Rehabilitation nach einem Schlaganfall
- Erfahrungsberichte von Schlaganfall-Patienten und Angehörigen
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Autor
unter Mitarbeit von Dr. med. Karin Kelle-Herfurth, MHBA
Helmut Gruhn ist seit mehr als 50 Jahren Physiotherapeut und auf die Therapie zerebraler neurologischer Ausfälle bei Erwachsenen spezialisiert. Als Bobath-Instruktor entwickelte er das Therapiekonzept “Back-to-Life” für Schlaganfall-Betroffene. Er leitet Fortbildungen und Seminare für Therapeuten und Ärzte und ist als Supervisor für neurologische Kliniken tätig. 2004 gründete er das Perzeptionshaus – ein Therapie- und Fortbildungszentrum für neurologische Rehabilitation. [mehr]