Rechte oder linke Hirnhälfte? Die komplexe Zusammenarbeit der Hemisphären ▷ Mythen, Aufgaben, Folgen
Das menschliche Gehirn erscheint auf den ersten Blick vollkommen symmetrisch. In ihrer Funktion unterscheiden sich die beiden Gehirnhälften jedoch voneinander. Das hat Folgen, wenn es zu einer Schädigung durch einen Schlaganfall kommt.

Obwohl das Gehirn symmetrisch erscheint, übernehmen die linke und rechte Hemisphäre unterschiedliche Aufgaben (Abb.: Life science | Shutterstock)
Symmetrie als bewährtes Konzept der Evolution: Sind rechte und linke Gehirnhälfte identisch?
Die Evolution hat den menschlichen Körper, zumindest von außen betrachtet, sehr symmetrisch gestaltet. Dies ist auch bei anderen Tierarten üblich, Symmetrie scheint ein bewährtes Konzept der Evolution zu sein.
Auch das Gehirn sieht auf den ersten Blick symmetrisch aus: Ohne Mikroskop sieht man keinen Unterschied zwischen rechter und linker Gehirnhälfte.
Doch dieser Eindruck täuscht. Die beiden Hirnhälften – oder Hemisphären, wie sie in der Fachsprache genannt werden – sind zwar ähnlich aufgebaut, haben aber unterschiedliche Aufgaben: Das Gehirn folgt dem Prinzip der Arbeitsteilung.
Entsprechend zeigen sich bei einer Schädigung des Gehirns, zum Beispiel durch einen Schlaganfall, je nach betroffener Hemisphäre unterschiedliche Symptome.
Ansteuerung über Kreuz
Eines der häufigsten und bekanntesten Symptome eines Schlaganfalls ist die halbseitige Lähmung, in der Fachsprache Hemiparese genannt.
Eine Hemiparese kann links oder rechts auftreten, je nachdem, welche Gehirnhälfte vom Schlaganfall betroffen ist. Die Steuerung der Muskulatur durch das Gehirn erfolgt über Kreuz. Die linke Gehirnhälfte steuert die Motorik der rechten Körperhälfte und umgekehrt.
Ein Schlaganfall im motorischen Zentrum der rechten Hemisphäre führt daher zu einer Halbseitenlähmung links.
Gibt es ein Linkshänder-Gen?
Müsste man sich entscheiden, auf welcher Seite man mit einer Lähmung besser zurechtkommt, fiele die Entscheidung den meisten Menschen leicht. Meist ist eine Körperhälfte und vor allem eine Hand motorisch geschickter als die andere, es gibt Rechts- und Linkshänder.
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Die Voraussetzungen für diese “Händigkeit” sind überwiegend genetisch bedingt, die Präferenz für eine Seite beginnt sich bereits vor der Geburt zu entwickeln. Ein spezielles Rechts- oder Linkshänder-Gen gibt es nicht, die Händigkeit ist vielmehr polygenetisch veranlagt, wobei auch Umweltfaktoren, wie z. B. das bevorzugte Training einer Seite, eine Rolle spielen.
Bei Rechtshändern ist der motorische Kortex der linken Hemisphäre in der Regel etwas größer und stärker vernetzt als auf der Gegenseite. Daher führt eine Schädigung durch einen Schlaganfall hier zu noch größeren Problemen bei der Alltagsbewältigung als auf der Gegenseite.
Wo sitzt das Sprachzentrum?
Aber nicht nur in Bezug auf die Motorik unterscheiden sich die linke und die rechte Hemisphäre in ihrer Funktion. Bei den meisten Menschen ist die linke Hemisphäre für das Sprachverständnis und die Sprachproduktion zuständig.
Die Hemisphäre, in der sich die Sprachzentren (es gibt mehrere) befinden, wird als dominante Hemisphäre bezeichnet. Bei über 90 Prozent der Menschen ist die linke Hemisphäre die dominante. Sowohl die Sprachzentren als auch die motorischen Zentren der geschickteren (rechten) Seite befinden sich meist hier.
Bei Linkshändern kann jedoch auch die rechte Hemisphäre dominant sein, d.h. bei einigen Linkshändern findet die Sprachverarbeitung überwiegend in der rechten Hemisphäre statt.
Die Unterschiede zwischen den Gehirnen von Links- und Rechtshändern sind jedoch subtiler als lange Zeit angenommen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass auch bei Linkshändern die Sprachverarbeitung meist überwiegend in der linken Hemisphäre stattfindet.
Nicht-dominant, aber oho
Auch der nicht-dominanten (d.h. in der Regel rechten) Hemisphäre werden spezifische Funktionen zugeschrieben. Unter anderem werden das räumliche Denken und die Wahrnehmung und Verarbeitung von Musik der rechten Hemisphäre zugeordnet.
Die Trennung ist jedoch nicht so scharf, wie die einfache Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zur linken oder rechten Hemisphäre vermuten lässt. Bei fast allen Funktionen arbeiten beide Hemisphären parallel und kommunizieren über ihre intensiven Nervenverbindungen miteinander.
Typische Symptom-Kombinationen
Bei einem Schlaganfall lässt sich der Ort der Schädigung im Gehirn jedoch direkt an den Symptomen erkennen. Bei einem großen Schlaganfall, der die linke Hemisphäre betrifft, kommt es in der Regel zu einer Hemiparese rechts und zu einer Sprachstörung (Aphasie).
Typisch für einen großen Schlaganfall, der die rechte Hemisphäre betrifft, ist neben der Halbseitenlähmung auf der linken Seite ein so genannter Neglect auf der linken Seite.
Neglect bedeutet “Vernachlässigung”. Bei diesem Symptom nehmen die Betroffenen ihre linke Körperhälfte und die linke Hälfte ihrer Umgebung weniger oder gar nicht wahr. Sie sind sich dieser Einschränkung oft nicht bewusst, verhalten sich aber so, als ob die linke Seite für sie nicht vorhanden wäre.
Sie reagieren zum Beispiel nicht auf Personen oder Gegenstände auf ihrer linken Seite und verhalten sich so, als ob diese für sie nicht existieren. Spricht man sie von links an, drehen sie den Kopf auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme nach rechts, da ihre Wahrnehmung auf diese Seite beschränkt ist.
Erst wenn eine Person in ihr rechtes Gesichtsfeld tritt, registrieren sie deren Anwesenheit. Der Neglect kann auf beiden Seiten auftreten, ist aber bei einem rechtshemisphärischen Schlaganfall deutlich häufiger und betrifft dann die Wahrnehmung der linken Seite. Die rechte Hemisphäre spielt eine dominante Rolle bei der räumlichen Aufmerksamkeitslenkung. Fällt diese Funktion aus, kommt es zum Neglect.
Mythos von der Rechts-/Linkshirnigkeit
Zwischen linker und rechter Hemisphäre gibt es also wesentliche Unterschiede, die sich vor allem bei Schädigungen bemerkbar machen.
Für den weit verbreiteten Mythos, dass sich Menschen darin unterscheiden, ob sie eher mit der linken oder der rechten Gehirnhälfte denken, gibt es hingegen keine Belege.
Es gibt keine “Rechtshirnigkeit” und keine “Linkshirnigkeit”, denen man bestimmte Eigenschaften zuschreiben könnte. Linke und rechte Hemisphäre sind zwar bei verschiedenen Aufgaben unterschiedlich aktiv, arbeiten aber in der Regel eng zusammen.
Dass jede Hemisphäre auch für sich allein arbeiten kann, zeigen Untersuchungen an Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären unterbrochen wurde. Fast alle Verbindungen zwischen rechter und linker Gehirnhälfte laufen über das Corpus callosum, eine dichte Faserverbindung in der Mitte des Gehirns.
Gekappte Verbindung: Hemisphären auf sich allein gestellt
Bei schweren Epilepsien wurde früher in bestimmten Fällen das Corpus callosum chirurgisch durchtrennt, um eine Ausbreitung der epileptischen Anfälle von einer Seite auf die andere zu verhindern.
Untersuchungen an Patienten, die so operiert wurden, lieferten interessante Erkenntnisse über die Funktionsweise der Hemisphären.
In einem dieser Experimente wurde einem Probanden die schriftliche Anweisung „Steh auf!” gegeben, die nur im linken Gesichtsfeld, also nur für die rechte Hemisphäre sichtbar, präsentiert wurde. Die Versuchsperson folgte der Aufforderung und stand auf. Auf die Frage, warum er aufgestanden sei, antwortete er: “Ich wollte mir etwas zu trinken holen”.
Der Grund? Die sprachdominante linke Hemisphäre, die die Antwort formulieren musste, hatte keinen Zugang zum tatsächlichen Grund des Aufstehens und erfand kurzerhand eine passende Realität.
Das Gehirn als Netzwerk
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Funktionsweise des menschlichen Gehirns weitaus komplexer ist, als es die einfache Einteilung in „links“ und „rechts“ vermuten lässt.
Beide Hemisphären sind an fast allen kognitiven Prozessen beteiligt und arbeiten eng zusammen, auch wenn bei bestimmten Aufgaben eine Hemisphäre die Führung übernimmt. Das Gehirn funktioniert als ganzheitliches, hochgradig vernetztes System, in dem beide Hemisphären miteinander kommunizieren und sich gegenseitig ergänzen.
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Autor
Dr. med. Johannes Heinemann
Facharzt für Neurologie an der Universitätsklinik Freiburg
Dr. Johannes Heinemann ist Facharzt für Neurologie an der Universitätsklinik Freiburg. Sein klinischer Schwerpunkt ist die Notfall- und Intensivneurologie. Die Akutbehandlung von Schlaganfallpatienten bereitet ihm große Freude, da hier schnelle Entscheidungen und präzises Handeln gefragt sind.
Sein Ziel ist es, Wissen über den Schlaganfall und seine Behandlung verständlich und praxisnah zu vermitteln, um Betroffenen und ihren Angehörigen zu helfen, den Weg der Genesung und Prävention besser zu verstehen und zu meistern.
Quellen
- Understanding left-handedness – Autoren: Gutwinski S, Löscher A, Mahler L, Kalbitzer J, Heinz A, Bermpohl F. – Publikation: Dtsch Arztebl Int. 2011 Dec;108(50):849-53 – DOI: 10.3238/arztebl.2011.0849 – PMID: 22259638 – PMCID: PMC3258574
- Anatomy of aphasia revisited – Autoren: Fridriksson J, den Ouden DB, Hillis AE, Hickok G, Rorden C, Basilakos A, Yourganov G, Bonilha L. – Publikation: Brain 2018 Mar 1;141(3):848-862 – DOI: 10.1093/brain/awx363 – PMID: 29360947 – PMCID: PMC5837461
- The split-brain – Autoren: Lassonde M, Ouimet C. – Publikation: Wiley Interdiscip Rev Cogn Sci. 2010 Mar;1(2):191-202 – DOI: 10.1002/wcs.36 – PMID: 26271234