Ataxie ▷ Ataxie - Bedeutung, Formen, Ursachen, Behandlung und Prognose
In diesem Artikel:
- Was genau bedeutet Koordination?
- Was bedeutet der Begriff Ataxie?
- Welche Anteile des Nervensystems sind für die Koordination verantwortlich?
- Untersuchung und Ausdrucksformen
- Ursachen
- Behandlung
- Prognose
- Was können PatientInnen selbst tun?
Was genau bedeutet Koordination?
Die normale Koordination beruht auf zwei Voraussetzungen:
- Der zeitlich und räumlich geordneten Aktivität bzw. Kontraktion verschiedener Muskeln, die für einen Bewegungsablauf benötigt werden. Wenn z.B. jemand die Hand ausstreckt, um eine Tasse zu ergreifen, werden zahlreiche Muskeln im Schulterbereich, Muskeln des Ober- und Unterarmes und der Hand nacheinander oder gleichzeitig eingesetzt, ohne dass dieser Vorgang bewusst wird.
- Gleichzeitig werden Muskeln des Rumpfes und der Beine eingesetzt, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, dass sich die normale Koordination auch auf die Haltung und Position des Körpers und der Extremitäten im Raum erstreckt.
Was bedeutet der Begriff Ataxie?
Ataxie (griechisch: ataxia = Unordnung, Unregelmäßigkeit) ist ein Oberbegriff für verschiedene Störungen der Bewegungskoordination, dem Ablauf bzw. der Feinsteuerung einzelner Bewegungen und dem Zusammenspiel von komplexen Bewegungsabläufen.
Eine Ataxie kann bei vollständig erhaltener Muskelkraft auftreten, aber auch in Kombination mit Lähmungserscheinungen.
Wenn eine Ataxie nicht erblich ist, wird sie hauptsächlich durch eine Schädigung des Kleinhirns, des Hirnstamms, des Rückenmarks oder der peripheren Nerven verursacht.
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Die offensichtlichste und für jeden erkennbare Erscheinungsform einer Ataxie ist die Gangataxie bzw. Gangunsicherheit. Betroffene gehen unsicher oder “breitbeinig wie ein Seemann”, sie “schrägeln”, wirken wie betrunken, weichen von der geraden Ganglinie ab oder machen Sicherheitsschritte zur Seite.
Welche Anteile des Nervensystems sind für die Koordination verantwortlich?
Beteiligt sind vor allem das Kleinhirn als “Gleichgewichtszentrale” und seine Verbindungen zum Großhirn, dem Mittelhirn, dem Hirnstamm, dem Rückenmark, dem Gleichgewichtsorgan, d.h. dem Labyrinth im Innenohr (Vestibularapparat) und den peripheren Nerven.
Letztere sind mit feinsten Sinnesfühlern (Sensoren) ausgestattet, welche die Tiefensensibilität über Gelenk- und Sehnenrezeptoren vermitteln und ihre Informationen über die Hinterstränge des Rückenmarks an das Kleinhirn und andere Hirnstrukturen zur weiteren Verarbeitung weiterleiten.
Das Kleinhirn ist besonders befähigt, die Aktivität verschiedener Muskeln zu komplexen, oft unbewussten Bewegungen zu koordinieren. Dies unter Berücksichtigung der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und der Stellung des Körpers im Raum. Hierzu sind ständige Korrekturen im gesamten Koordinationssystem erforderlich.
Untersuchung und Ausdrucksformen einer Ataxie1
Die ärztliche Untersuchung besteht zunächst in der Erhebung der persönlichen Vorgeschichte bzw. Anamnese. Besonders wichtig ist eine ausführliche Familienanamnese mit der Frage, ob bei Geschwistern, Kindern oder Eltern bzw. anderen Vorfahren eine ataktische Störung beobachtet oder ärztlich festgestellt wurde.
Danach erfolgt die eingehende und nicht selten zeitaufwendige neurologische Untersuchung. In aller Regel wird eine kernspintomografische Untersuchung (MRT) durchgeführt. Hierdurch ist oft schon die Ursache der Ataxie zu klären bzw. eine definitive Diagnose zu stellen.
In vielen Fällen sind allerdings umfassende biochemische und molekulargenetische Untersuchungen durchzuführen, um die Frage nach einer erblichen Ataxie beantworten zu können.
Folgende Ausdrucksformen einer ataktischen Störung sind zu unterscheiden:
Gangataxie
Bei der Gangataxie haben Betroffene Probleme beim Gehen. Charakteristisch für diese Ataxie-Form ist ein breitbeiniger und unsicherer Gang. Die Patienten geben an, sie würden sich “wie ein Seemann” oder “wie betrunken” fühlen. Sie setzen die Füße beim Gehen weit auseinander, um mehr Stabilität zu erreichen, um nicht zu stürzen. Zumeist sind beide Beine von der Ataxie betroffen.
Die neurologische Überprüfung einer Gangataxie erfolgt anhand der Beurteilung der Fähigkeit des Betroffenen, “auf dem Strich zu gehen” oder einen Fuß eng vor den anderen zu setzen, dies vor- und rückwärts.
Standataxie
Die Standataxie verursacht beim Stehen Unsicherheit in der Körperhaltung. Betroffene können oft nicht ohne Unterstützung stehen. Zudem zeigen sie im Stehen ein ausgeprägtes Schwanken und es besteht eine Fallneigung. Eine leichte Standataxie verschlechtert sich beim Schließen der Augen, da dann die optische Kontrolle bzw. Orientierung wegfällt.
Die neurologische Untersuchung überprüft eine Standataxie durch die Beobachtung und Aufforderung, mit geschlossenen Füßen mit offenen oder geschlossenen Augen zu stehen und den Einbeinstand zu versuchen. Ein geringes Schwanken ist nicht krankhaft. Überprüft wird auch die Sicherheit beim Einbeinhüpfen.
Rumpfataxie
Die Rumpfataxie ist ebenfalls eine Störung der Körperhaltung. Bereits im Sitzen kommt es zu schwankenden Bewegungen des Oberkörpers und zur Fallneigung auf eine Seite.
Gliedmaßenataxie/Zielbewegungsataxie
Bei der Gliedmaßenataxie/Zielbewegungsataxie können die PatientInnen keine feinen und zielgerichteten Bewegungen ausführen, wie z.B. das Zeigen auf ein Objekt und Greifen eines Gegenstandes oder es gelingt das zielgerichtete Aufsetzen des Fußes und Beines beim Gehen erschwert oder gar nicht. Oftmals tritt diese Ataxieform nur auf einer Körperseite auf, man nennt sie dann Hemiataxie.
Neurologisch wird eine Zielbewegungsataxie durch folgende drei Tests untersucht:
- Den Fingerfolge-Test. Hierbei wird der Betroffene aufgefordert, mit der Spitze seines Zeigefingers den Zeigefinger des Untersuchers anzutippen und raschen Vor- und Seitbewegungen zu folgen.
- Durchgeführt wird auch der allgemein bekannte Finger-Nase-Versuch und
- Knie-Hacken-Versuch mit der Frage, ob diese Bewegungen bei offenen und geschlossenen Augen zielsicher durchgeführt werden können.
Optische Ataxie
Bei der optischen Ataxie ist die visuelle Bewegungskontrolle gestört. Betroffene haben Schwierigkeiten, nach Objekten zu greifen, obwohl sie diese sehen und keine Lähmung der geforderten Muskeln vorliegt. Hierbei liegt eine Unfähigkeit zielgerichteter Hand- bzw. Greif-Bewegungen unter Kontrolle der Augen vor.
Was sind Ursachen einer Ataxie?2
Grundsätzlich lassen sich drei Hauptgruppen von Ataxien unterscheiden: Die angeborenen (erblichen, genetischen), die durch Krankheit erworbenen und die sporadischen, degenerativen Ataxien.
Erbliche Ataxien
Sie werden durch biochemische und molekularbiologische Untersuchungen eingeordnet.
Die sogenannten Spino-zerebellären Ataxien sind eine große Gruppe genetisch, also erblich bedingter Ataxien, die sich in über 40 verschiedene Unterformen unterteilen lässt. Bei diesen Ataxie-Formen gehen Nervenzellen des Kleinhirns (Cerebellum) und des Rückenmarks (Medulla spinalis) zugrunde.
Typische Symptome sind Koordinations- und Gleichgewichtsprobleme sowie die Neigung zu Muskelschwäche und Gefühlsstörungen. Einige Unterformen können außerdem Probleme mit den Augenbewegungen verursachen. Die Erkrankungen sind fortschreitend. Eine ursächliche Therapie gibt es bisher nicht.
Die Friedreich-Ataxie – benannt nach ihrem Erstbeschreiber Nikolaus Friedreich 1863 – ist die häufigste Form der genetischen Ataxien. Die ersten Krankheitszeichen treten im ersten oder zweiten Lebensjahrzehnt auf.
Betroffene leiden neben Koordinationsstörungen auch unter Muskelversteifung, verlieren Muskelkraft, es treten auch Gefühlsstörungen in den Armen und Beinen auf und es kommt zu Veränderungen des Bewegungsapparates (Hohlfuß, Wirbelsäulenverkrümmung).
Es können zudem psychiatrische Auffälligkeiten in Form von Wesensänderung und Demenz auftreten. Außerdem haben Betroffene mit dieser Ataxie-Form oft eine hypertrophe Kardiomyopathie (Muskelerkrankung des Herzens, bei der es zu einer Verdickung der linken Herzkammer kommt) und Sehstörungen durch Schädigungen des Sehnerven. Die Friedreich-Ataxie entwickelt sich fortschreitend und kann ursächlich noch nicht behandelt werden.
Erworbene Ataxien
Erworbene Ataxien sind eine Gruppe von Ataxien, die nicht als erblich eingeordnet werden können, deren Ursache aber bekannt ist.
Umschriebene Erkrankungen des Kleinhirns, bedingt z.B. durch einen Infarkt im Bereich des Kleinhirns, eine Blutung, einen Tumor oder durch die Multiple Sklerose (MS) gehören nicht in diese Gruppe.
Ursachen von erworbenen Ataxien sind:
- Toxische (vergiftende) Einflüsse v.a. durch Alkohol, Drogen, Medikamente, Schwermetalle und Lösungsmittel. Sie führen zu einer Atrophie (Schrumpfung) des Kleinhirns.
- Immunvermittelte, also durch ein fehlgesteuertes Immunsystem bedingte Ataxien, z.B. als Begleiterkrankung eines bösartigen Tumors (paraneoplastisch).
- Durch erworbenen Vitaminmangel – Vitamin E, Vitamin B 12, Folsäure – bedingte Ataxien.
- Andere Ursachen sind z.B. eine Entzündung des Kleinhirns oder eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose).
Sporadische, degenerative Ataxien
Das sind im Erwachsenenalter fortschreitend zunehmende ataktische Störungen, die weder erblich noch erworben sind. Ihre Ursache kann bisher nicht geklärt werden.
Wie kann eine Ataxie behandelt werden?3,4
Bei bekannter Ursache, wie z.B. bei Alkoholmissbrauch oder Vitaminmangel, sollte diese behandelt werden.
Grundsätzlich ist bei allen Ataxieformen die Physiotherapie die größte Hilfe.
Auch nach einem Schlaganfall sollten Betroffene unverzüglich und regelmäßig Übungen durchführen, welche die Koordination trainieren. Hierbei sind besonders Gleichgewichts- und Gehtraining von Bedeutung. Die Übungen sollten auch zu Hause selbstständig von den Patienten wiederholt und täglich ausgeführt werden. Wird das Training intensiv und konsequent über einen längeren Zeitraum durchgeführt, können die Beschwerden der Betroffenen reduziert und damit ihre Lebensqualität verbessert werden.
Um koordiniertes Gehen zu üben, wird das sogenannte Lokomotionstraining angewandt. Darunter wird das regelmäßige Wiederholen von Gehbewegungen auf dem Laufband verstanden.
Prognose
Die Prognose einer Ataxie hängt von ihrer Form und ihrer Ursache ab. Ataxien durch Nebenwirkungen von Medikamenten oder Drogen bessern sich in der Regel sehr gut, wenn die entsprechende Substanz weggelassen wird.
Ataxien, bedingt durch einen Schlaganfall im Bereich des Kleinhirns oder Hirnstamms lassen sich durch intensive Physio- und Ergotherapie oftmals stabilisieren oder sehr befriedigend verbessern.
Erblich bedingte Ataxien sind in aller Regel fortschreitende Erkrankungen, bei denen sich die Symptomatik schrittweise verschlechtert. Aber auch hier kann intensive Therapie dazu beitragen, dass eine größtmögliche Selbständigkeit und Mobilität möglichst lange erhalten werden.
Was können PatientInnen selbst tun?
- Führen Sie regelmäßig und motiviert Ihre Therapien durch. Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie helfen dabei, Symptome zu verbessern oder eine Verschlechterung zu verlangsamen.
- Kümmern Sie sich um eine gute Hilfsmittelversorgung, die Ihnen den Alltag erleichtern kann. Lassen Sie sich von Ihren Therapeuten und Sanitätshäusern beraten, welche Hilfsmittel für Sie nötig und sinnvoll sind. Die Beantragung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen kann manchmal mühsam sein. Holen Sie sich hierbei Unterstützung bei Ihrem Hausarzt oder Neurologen.
- Holen Sie sich professionelle Hilfe, wenn Sie aufgrund der Ataxie herabgestimmt oder depressiv sind oder andere psychische Probleme entwickeln.
- Suchen Sie andere Betroffene und sprechen mit diesen über Ihre Erfahrungen, z.B. in einer Selbsthilfegruppe oder einem Patientenforum. Sich auszutauschen kann Ihnen helfen, mit der Ataxie besser umzugehen und sie zu akzeptieren.
- Schwerbehindertenausweis beantragen: Dieser kann bei eingeschränkter Mobilität Sonderrechte ermöglichen (öffentliche Verkehrsmittel mit Begleitperson, Parkausweis).
- Pflegeeinstufung: Wenn Sie irgendwann nicht mehr ohne Hilfe im Alltag zurechtkommen (Körperpflege, Haushalt), haben Sie Anspruch auf Leistungen aus der Pflegekasse. Dazu erstellt der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) nach Ihrem Antrag ein Gutachten, aus dem das Ausmaß Ihrer Pflegebedürftigkeit ersichtlich wird.
Sie haben eine Frage zur Ataxie? Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen in unserem Forum aus.
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- Rehabilitation nach einem Schlaganfall
- Beruf und Schlaganfall: Der Wiedereinstieg
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autorin
unter Mitarbeit von stud. med. Sedef Kuecuekuncular
Dr. med. Christina Rückert ist Fachärztin für Neurologie und Geriatrie und arbeitete mehr als 10 Jahre als Oberärztin an der Oberschwabenklinik in Ravensburg. Ihre berufliche Tätigkeit beinhaltete auch die stellvertretende ärztliche Leitung der Zentralen Notaufnahme. Seit Juli 2021 ist sie gemeinsam mit ihrem Mann – ebenfalls Facharzt für Neurologie – in eigener Praxis in Rothenburg ob der Tauber niedergelassen. Ein Schwerpunkt ihrer ambulanten Tätigkeit ist die Nachsorge von Patienten nach einem Schlaganfall. [mehr]Sie erhalten von uns regelmäßig und kostenlos aktuelle Informationen rund um den Schlaganfall.
Quellen
- Ataxia – Diagnosis – NHS – URL: https://www.nhs.uk/conditions/ataxia/diagnosis/
- Ataxien des Erwachsenenalters – S1 Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie – Deutsche Gesellschaft für Neurologie – URL: https://dgn.org/leitlinie/134
- Gait adaptability training improves obstacle avoidance and dynamic stability in patients with cerebellar degeneration – Autoren: Ella M R Fonteyn, Anita Heeren, Jasper-Jan C Engels, Jasper J Den Boer, Bart P C van de Warrenburg, Vivian Weerdesteyn – Publikation: Gait Posture. 2014;40(1):247-51 – DOI: 10.1016/j.gaitpost.2014.04.190
- Intensive Coordinative Training Improves Motor Performance in Degenerative Cerebellar Disease – Autoren: W Ilg, M Synofzik, D Brötz, S Burkard, M A Giese, L Schöls – Publikation: Neurology. 2009 Dec 1;73(22):1823-30. – DOI: 10.1212/WNL.0b013e3181c33adf