Epileptische Anfälle bei und nach einem Schlaganfall ▷ Schlaganfall-Folgen
In diesem Artikel:
- Epilepsie und epileptische Anfälle
- Häufigkeit eines epileptischen Anfalls bei Schlaganfällen
- Ursachen von epileptischen Anfällen
- Epileptische Aura als Vorbote
- Fokale und generalisierte Anfälle
- Symptome von fokalen Anfällen
- Symptome von generalisierten epileptischen Anfällen
- Patienten werden von NeurologInnen behandelt
- Wie wird bei Schlaganfall-Patienten ein epileptischer Anfall behandelt?
- Was kann ich bei einem epileptischen Anfall tun?
- Prognose für Schlaganfall-Patienten nach einem epileptischen Anfall
Epilepsie und epileptische Anfälle
Ein epileptischer Anfall ist nicht mit der neurologischen Krankheit “Epilepsie” gleichzusetzen.
Unter dem Krankheitsbegriff Epilepsie wird das wiederholte Auftreten von epileptischen Anfällen verstanden.1 Das einmalige Auftreten eines Anfalls, zum Beispiel ein Fieberkrampf bei Kleinkindern, ist somit nicht unter dem Krankheitsbegriff Epilepsie einzuordnen. Das gilt auch für epileptische Anfälle, welche unmittelbar bei einem Schlaganfall, in den ersten Tagen danach, gelegentlich Monate oder Jahre später auftreten.
Ein epileptischer Anfall ist also das vorübergehende und meist einmalige Auftreten einer abnormalen Aktivität von Nervenzellen des Gehirns, die grundsätzlich jedes Gehirn als Reaktion auf eine Schädigung erzeugen kann. Das heißt, dass die Nervenzellen im Gehirn übermäßig aktiv sind und zu viele Signale angeben. Dadurch kann die Kommunikation zwischen den Nervenzellen gestört sein. Die Wahrscheinlichkeit, während seines Lebens einen epileptischen Anfall zu erleiden, wird auf 8-10 Prozent geschätzt. Epileptische Anfälle kommen also häufig vor.
Ob eine Neigung zu epileptischen Anfällen vorliegt, wird durch Messung der Hirnströme EEG (Untersuchung der elektrischen Aktivität der Hirnrinde) erkannt. Die Ursache kann, wenn ein Hirnschaden vermutet wird, durch eine Kernspintomografie (MRT, NMR) nachgewiesen werden.
Häufigkeit eines epileptischen Anfalls bei Schlaganfällen
Etwa 5 Prozent aller Patienten mit einem Hirninfarkt durch Blutmangel in einer umschriebenen Hirnregion erleiden einen epileptischen Anfall. Bei einer Hirnblutung liegt das Risiko bei etwa 8 Prozent. 70 Prozent dieser Anfälle treten innerhalb von 7 Tagen nach einem Schlaganfall auf. Das Risiko, innerhalb von 10 Jahren nach einem Schlaganfall einen epileptischen Anfall zu erleiden, beträgt ca. 30 Prozent.2
In einer amerikanischen Studie3 wurde bei mehr als 770.000 Erwachsenen untersucht, wie häufig epileptische Anfälle bei Schlaganfall-Patienten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auftraten. Innerhalb eines Jahres (Inzidenz) waren es 1,68 Prozent, in 8 Jahren insgesamt 9,27 Prozent. Diese Zahlen berücksichtigen allerdings nicht die epileptischen Anfälle, welche sich akut bei einem Schlaganfall oder in den Tagen danach bis zur Entlassung (s.o.) ereignen.
Zusammengefasst ist somit das Risiko für einen epileptischen Anfall in den ersten Wochen nach dem Schlaganfall am höchsten.
Ursachen von epileptischen Anfällen
Epileptische Anfälle haben verschiedene Ursachen. Einerseits können sie genetisch bedingt sein. Andererseits können sie bei allen Schädigungen des Gehirns auftreten, so zum Beispiel durch Verletzungen, Tumore, Entzündungen, als Nebenwirkung von Medikamenten, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Zudem kann während oder nach einem Schlaganfall ein epileptischer Anfall auftreten, sei es durch Blutmangel (Hirninfarkt) oder durch eine Hirnblutung.
Das Gehirn ist ein Organ, welches wie auch das Herz, seine Funktionen neben chemischen auch aus elektrischen Signalen aufbaut. Das findet Ausdruck in den vom Schädel ableitbaren Hirnströmen (Elektroenzephalogramm, EEG), vergleichbar mit dem Elektrokardiogramm (EKG). Hirnzellen kommunizieren also durch elektrische Signale, die auch entlang der Nerven zu allen Teilen des Körpers gelangen, z.B. zur Anregung der Muskulatur.
Ein epileptischer Anfall wird bei einer Hirnschädigung durch eine akute “elektrische Explosion” ausgelöst, die zu Funktionsstörungen in einer umschriebenen Hirnregion (fokale Anfälle) führt oder das gesamte Gehirn betreffen (generalisierte Anfälle). Während eines epileptischen Anfalls ist die Kommunikation der Nervenzellen untereinander gestört. Das hat zur Folge, dass auch die körperlichen und geistigen Funktionen, für die diese Nervenzellen zuständig sind (z.B. Sprache, Motorik, Bewusstsein), während des Anfalls gestört sind.4
Epileptische Aura als Vorbote
Als epileptische Aura wird das Phänomen bezeichnet, dass es wenige Sekunden vor einem Anfall – quasi als Vorbote – zu einer motorischen, sensorischen, vegetativen oder psychischen Störung kommen kann.Die Aura ist eine so genannte Herdstörung, die Irritation eines Herdes (Fokus) im Gehirn. Die Ausdrucksform der Aura richtet sich somit nach dem Ort der Störung.
Beispiele sind die sogenannte epigastrische Aura bei einer Irritation des Schläfenhirns (Temporallappen), bei der ein “komisches Gefühl” vom Magen zum Hals mit Engegefühl aufsteigt, bevor die Bewusstseinsstörung oder Bewusstlosigkeit auftritt. Oder ein schwer beschreibbares Angstgefühl, gelegentlich auch ein abrupt auftretendes Glücksgefühl oder das Gefühl, etwas früher Erlebtes erneut zu erleben (Deja-vu-Gefühl). Es können aber auch Muskelzuckungen oder Gefühlsstörungen sein.
Aura als Warnung
Nicht selten beginnt ein großer, generalisierter Anfall (Grand-mal-Anfall) in einer umschriebenen Region des Großhirns mit zunächst rhythmischen Zuckungen einer Hand mit nachfolgender Ausbreitung auf den ganzen Körper. Die Aura kann dem Betroffenen signalisieren, dass ein Anfall droht, ihn somit warnen, damit er noch Zeit hat, sich in eine sichere Lage zu bringen.
Eine Aura tritt bei etwa 30-40 Prozent der epileptischen Anfälle auf.5
Fokale und generalisierte Anfälle
Unterschieden werden zwei große Gruppen von Anfällen: Fokale und generalisierte Anfälle.
Bei fokalen Anfällen (motorische und nicht-motorische) ist ein umschriebenes Areal einer Hirnhälfte betroffen, wobei das Bewusstsein erhalten bleiben, aber auch gestört sein kann. Diese Anfälle können in generalisierte Anfälle übergehen.
Bei generalisierten Anfällen (motorische und nicht-motorische) sind beide Hirnhälften betroffen mit Bewusstseinseinschränkung oder Bewusstlosigkeit.6
Motorisch bedeutet, dass der Anfall mit unwillkürlicher Aktivität, meist Zuckungen von Muskeln des Gesichts oder der Gliedmaßen einhergeht.
Nicht-motorisch bedeutet, dass auch Störungen der Sinneswahrnehmungen (Gefühlsstörungen, abnorme Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen, Hör- und Sehstörungen, Bewusstseinsstörungen) auftreten können.
Symptome: Einen epileptischen Anfall erkennen
Es gibt typische, von außen erkennbare Symptome eines epileptischen Anfalls. Daneben empfinden die Patienten selbst zusätzliche Symptome und zeigen weitere nach dem Anfall.
Symptome von fokalen Anfällen ohne Bewußtseins- oder Erinnerungsstörung1
- rhythmische Zuckungen der Extremitäten- und/oder Gesichtsmuskulatur auf einer Körperseite (können sich auch auf den ganzen Körper ausweiten, dann als generalisierter Anfall)
- Äußerung von unwillkürlich ausgestoßenen Lauten
- Gefühlsstörungen wie Kribbeln oder Taubheit im Gesicht oder auf einer Körperseite (können sich auch ausweiten)
- veränderte Seh- oder Hörwahrnehmung
- nach 60-180 Sekunden Anfallsdauer zeigen sich vorübergehende Symptome wie Lähmungen, Sprachstörungen, verändertes Sehen oder Hören
Symptome von fokalen Anfällen mit Erinnerungslücke
- Empfindungen wie Wärme, Kälte, Gestank und Angst gefolgt von Schmatz-, Leck- und Schluckbewegungen und unkoordiniertes Bewegen der Arme
- Blickwendung und Seitwärtsdrehung des Kopfes zu einer Seite und drehende Körperbewegungen
- schaukelnde, um die eigene Achse drehende Bewegungen
Symptome von generalisierten epileptischen Anfällen
Für den Außenstehenden immer höchst erschreckend ist ein sog. ”großer oder Grand-mal-Anfall”.
Der Betroffene verliert das Bewußtsein, geht unter Verletzungsgefahr v.a. des Kopfes “blitzartig” zu Boden, alle Gliedmaßen zucken rhythmisch (klonisch) oder verharren in einem Streckkrampf (tonisch), vor dem Mund tritt Schaum auf, die Atmung stockt, das Gesicht verfärbt sich blau. Gelegentlich kommt es zu Urinabgang (“Einnässen”).
Charakteristisch ist:
- Verharren, Niedersinken- oder stürzen, den Kopf und Rumpf überstrecken
- Zucken der Arme und Beine
- Dauer in aller Regel nur wenige Minuten
- oft gefolgt von einem Dämmerzustand oder vorübergehenden neurologischen Störungen, wie z.B. eine Lähmung oder Sprachstörung
Zu den generalisierten Anfällen zählen auch die Absencen (Zustände von Abwesenheit), die vorwiegend bei Kindern und Jugendlichen auftreten, unbehandelt oft mehrfach am Tag.
Typisch ist eine plötzlich auftretende, meist 5 bis 10, höchstens 30 Sekunden andauernde Unterbrechung des Bewusstseins mit Erinnerungslücke nach dem abrupten Ende. Oft ist diese Abwesenheit von Verdrehen der Augen, Blinzeln oder Lidflattern, anderen leichten Muskelzuckungen oder Lippen- und Kaubewegungen (“Schmatzen”) begleitet.
Patienten werden von NeurologInnen behandelt
Für die Diagnose und Versorgung von Patienten mit epileptischen Anfällen mit oder ohne einen Schlaganfall ist das medizinische Fachgebiet Neurologie zuständig. Da epileptische Anfälle häufig auftreten, gibt es innerhalb der Neurologie das Spezialgebiet Epileptologie.
Die Untersuchung und Behandlung erfolgt in spezialisierten und zertifizierten neurologischen Praxen und Kliniken.
Bei Verdacht auf einen epileptischen Anfall wird eine Blutuntersuchung durchgeführt hinsichtlich der Konzentration des Prolaktin und der Kreatinkinase (CK). Prolaktin ist in der ersten Stunde nach dem Anfall deutlich erhöht und die Kreatinkinase, ein Muskelenzym, in bis zu 72 Stunden nach dem Anfall.
Zur möglichst exakten Epilepsie-Diagnostik wird die Ableitung eines Elektroenzephalogramms (EEG), auch als Langzeit-EEG und meist auch eine Kernspintomografie ( MRT) durchgeführt. Das EEG kann auch in anfallsfreien Intervallen Anfallsaktivität des Gehirns feststellen.1
Wie wird bei Schlaganfall-Patienten ein epileptischer Anfall behandelt?
Die meisten Patienten haben einen einmaligen epileptischen Anfall bei oder nach einem Schlaganfall und sind danach anfallsfrei. Trotzdem werden diese Patienten zur Prophylaxe eines erneuten Anfalls meistens über 4-6 Wochen vorübergehend medikamentös behandelt.7
Patienten, die eine Epilepsie nach dem Schlaganfall entwickeln, sollten eine dauerhafte medikamentöse Anfallsprophylaxe erhalten. Hier zeigte sich, dass der Erfolg im Alter höher ist als bei jungen Erwachsenen.8
Der Therapieerfolg ist davon abhängig, ob der Patient die verordneten Medikamente nach ärztlicher Vorschrift einnimmt, ob er sich also therapietreu (adhärent) verhält. Meistens gelingt es, mit einem individuell spezifisch angepassten Medikament oder einer Kombination mehrerer Substanzen ohne gravierende Nebenwirkungen Anfallsfreiheit zu erreichen.
Was kann ich bei einem epileptischen Anfall tun?
Während eines Anfalls sollten Angehörige und auch mögliche Ersthelfer die unmittelbare Umgebung des Patienten sichern. Gerade bei unkontrollierten Bewegungen und der Sturzgefahr oder Sturzneigung können Verletzungen insbesondere des Kopfes auftreten.
In jedem Fall sollte der Notruf 112 gewählt werden. Die stabile Seitenlage sollte angestrebt werden. Anwesende sollten den Patienten auch nicht an Bewegungen hindern oder Gegenstände zwischen die Kiefer klemmen, dabei können schwere Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen entstehen.9
Sehr wichtig ist, die Dauer des Anfalls zu dokumentieren, damit ein lebensbedrohlicher sog. Status epilepticus, ein Anfall der länger als 5 Minuten dauert, von einem erfahrenen Notarzt medikamentös unterbrochen werden kann.
Prognose für Schlaganfall-Patienten nach einem epileptischen Anfall
Patienten, die einen einmaligen epileptischen Anfall innerhalb der ersten Woche nach dem Schlaganfall hatten, haben eine gute Prognose. Diese Frühanfälle führen selten zu einer chronischen Epilepsie und beeinflussen nicht das Behandlungsergebnis der Rehabilitation. Ebenso sind erneute Anfälle (Rezidive) unwahrscheinlich, selbst wenn keine Therapie erfolgt.10
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autoren
unter Mitarbeit von stud. med. Nina Siegmar
Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurozentrum Ravensburg. Als Chefarzt leitete er die Abteilung für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Diagnostik und Behandlung von Schlaganfällen. [mehr]Sie erhalten von uns regelmäßig und kostenlos aktuelle Informationen rund um den Schlaganfall.
Quellen
- Duale Reihe Neurologie – Autoren: Karl F. Masuhr, Florian Masuhr, Marianne Neumann – 7. Auflage – ISBN: 9783131359476
- Epileptischer Anfall kurz nach Schlaganfall – Fall des Monats – Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg – URL: https://www.ezbb.de/index.php/falldesmonats/epileptischer-anfall-kurz-nach-schlaganfall/
- Population-Based Assessment of the Long-Term Risk of Seizures in Survivors of Stroke – Autoren: Alexander E. Merkler, Gino Gialdini, Michael P. Lerario, Neal S. Parikh, Nicholas A. Morris, Benjamin Kummer, Lauren Dunn, Michael E. Reznik, Santosh B. Murthy, Babak B. Navi, Zachary M. Grinspan, Costantino Iadecola, Hooman Kamel – Publikation: Stroke. 2018;49:1319–1324 – DOI: 10.1161/STROKEAHA.117.020178
- Krankheitsbild und Anfallsarten – Deutsche Epilepsievereinigung e.V.
- The occurrence and characteristics of auras in a large epilepsy cohort – Autoren: K. O. Nakken M. H. Solaas M. J. Kjeldsen M. L. Friis J. M. Pellock L. A. Corey – Publikation: Acta Neurologica Scandinavica 0001-6314 – DOI: 10.1111/j.1600-0404.2008.01069.x
- Epileptische Anfälle – Autoren: Dr. med. Johannes-Martin Hahn – Publikation: Checkliste Innere Medizin, 8. Auflage – DOI: 10.1055/b-006-160286
- Epilepsie nach Schlaganfall – URL: https://www.epilepsie-gut-behandeln.de/leben-mit-epilepsie/epilepsie-im-alltag/epilepsie-nach-schlaganfall
- Outcomes in Elderly Patients With Newly Diagnosed and Treated Epilepsy – Autoren: Martin J.Brodie, Linda J. Stephen – Publikation: International Review of Neurobiology Volume 81, 2007, Pages 253-263 – DOI: 10.1016/S0074-7742(06)81016-0
- Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall – Deutsche Epilepsievereinigung – URL: https://www.epilepsie-vereinigung.de/epilepsie/erste-hilfe/
- Dhanuka AK, Misra UK, Kalita J: Seizures after stroke: a prospective clinical study. Neurol India 2001; 49 (1): 33-6
Labovitz DL, Hauser WA, Sacco RL: Prevalence and predictors of early seizure and status epilepticus after first stroke. Neurology 2001; 57 (2): 200-6