Colchicin bei chronischen Herz- Kreislauferkrankungen ▷ Studie
Einleitung
Entzündliche Prozesse werden schon seit vielen Jahren als eine (Mit-) Ursache für arteriosklerotische Gefäßveränderungen diskutiert und haben in letzter Zeit wieder vermehrt Aufmerksamkeit gewonnen.
Lag der Fokus zunächst auf spezifischen – bakteriellen – Entzündungsprozessen in den Gefäßwänden, so richtet sich die Aufmerksamkeit heute verstärkt auf unspezifische Entzündungen, die also nicht mit einem speziellen Agens, einem krankmachenden Faktor in Verbindung gebracht werden können.
Unsere Arbeitsgruppe an der Philipps Universität in Marburg hatte beispielsweise schon vor vielen Jahren zusammen mit zahnmedizinischen ForscherInnen nachweisen können, dass spezifisch im Rahmen von Zahnfleischentzündungen auftretende Bakterien (Porphyromonas gingivalis) auch in arteriosklerotischen Verkalkungen in der Hauptschlagader (Aorta) oder in den Herzkranzgefäßen der gleichen Patienten gefunden werden konnten.
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Weitere Arbeitsgruppen haben in der Folge ähnliche Befunde publiziert.
Es haben sich allerdings keine unmittelbaren Beweise gefunden, dass solche bakteriellen Besiedelungen zu direkten lokalen Infektionen führen, wie wir sie z.B. an den Herzklappen kennen in Form der die Klappen zerstörenden Endokarditis, die man mit Antibiotika behandeln kann.
Vielmehr geht man davon aus, dass die beschriebenen Keime ein Auslöser für eine chronische entzündliche Reaktion in der Gefäßwand sind, wie z.B. auch die allseits bekannten Cholesterinkristalle.
Multifaktorielle Ursachenforschung
Zumindest wird also die reine Hinwendung zu den „bösen Fetten“ heute abgelöst durch eine mehr multifaktorielle Ursachenforschung, bei der entzündliche – inflammatorische – Einflüsse auch eine wesentliche Rolle spielen und das spiegelt sich auch in therapeutischen Ansätzen wider.
Die sogenannten Fettsenker, also insbesondere die Statine, haben heute einen festen Platz in der Primär- und Sekundärprävention arteriosklerotischer Gefäßveränderungen. Dabei wird schon länger diskutiert, ob diese Medikamente neben ihrer fettsenkenden auch eine antiinflammatorische – entzündungshemmende – Wirkung haben und damit die typischen arteriosklerotischen Plaques, also die Wandverdickungen, auch stabilisieren.
Denn wir wissen, dass gerade der Aufbruch dieser Plaques, die Plaqueruptur, Ursache akuter Gefäßverschlüsse und damit eines Herzinfarkts oder eines Schlaganfalls ist und dass hierbei entzündliche Prozesse eine wichtige Rolle spielen.
In einem Kommentar vom 06.07.2023 in Hospital Healthcare Europe schreibt Rod Tucker:
“Die vorherrschende Meinung ist, dass Arteriosklerose hervorgerufen wird durch die Ansammlung von Cholesterol in der Innenschicht der Arterienwand und also einer fettsenkenden Therapie bedarf. Eine alternative Ursache, die schon 1999 diskutiert wurde, blieb bis zuletzt weitgehend unbeachtet. Wie auch immer deutet eine zunehmende Evidenz darauf hin, dass Entzündung, mehr noch als die Hypercholesterinämie, ein entscheidender Treiber der Arteriosklerose ist und folglich eine Grundlage für den Einsatz antientzündlicher Medikamente wie Colchicin darstellt.”
Es erscheint ja nur logisch, dass gerade solche Medikamente, die schon in der Herzmedizin bekannt sind, auch hier auf Interesse stoßen, also eben Colchicin, ein „Zellteilungsgift“ mit einer besonderen Wirkung auf weiße Blutkörperchen, insbesondere Granulozyten, wie wir sie bei Entzündungen vermehrt vorfinden.
Bisher ist Colchicin besonders bekannt in der Behandlung des akuten Gichtanfalls und – in der Herzmedizin – bei (wiederkehrenden) Herzbeutelergüssen im Rahmen von Herzbeutelentzündungen. Aber auch nach Herzinfarkten konnten positive Effekte in der akuten Phase erkannt werden.
Die Studie
Eine große internationale Arbeitsgruppe untersuchte den Effekt von Colchicin bei chronischer Erkrankung der Herzkranzgefäße.1 5000 Patienten wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Hälfte erhielt Colchicin in einer üblichen Dosierung von 0,5 mg/Tag, die andere Hälfte ein entsprechendes Placebo. Die Patienten wurden im Mittel 28 Monate nachbeobachtet.
Die Frage war, wie häufig in den beiden Gruppen Patienten an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung starben, ein Herzinfarkt oder Schlaganfall auftrat oder eine Intervention an den Herzkranzgefäßen notwendig wurde.
Als Ergebnis zeigte sich, dass die genannten Ereignisse bei 6,8 Prozent der Patienten unter Colchicin und bei 9,6 Prozent der Patienten unter Placebo vorkamen, also ein signifikanter Unterschied zugunsten von Colchicin.
Lediglich bei den Todesfällen, die nicht durch eine Herz-Kreislauf-Erkrankung verursacht wurden, fand sich eine geringfügig höhere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines der genannten Ereignisse in der Colchicin Gruppe.
Die Autoren kommen also zu dem Schluss, dass das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse in der Colchicin Gruppe signifikant niedriger war.
Bewertung der Studie
Wie ist diese Studie einzuschätzen? Colchicin ist ein Zellgift und wirkt vor allem auf die weißen Blutkörperchen, die Leukozyten, und hier insbesondere auf die neutrophilen Granulozyten.
Es ist also keineswegs ein „harmloses“ Medikament und hat auch eine Reihe von Nebenwirkungen, vor allem im Magen-Darmbereich, wie Übelkeit und Durchfall. Bei chronischen Nieren- und Lebererkrankungen sollte es nur mit großer Vorsicht und unter engen Kontrollen der Nieren- und Leberwerte gegeben werden.
Auch verstärkt Colchicin die Wirkungen einiger in der Herz-Kreislaufmedizin häufig eingesetzter Medikamente, wie diese auch die Nebenwirkungen von Colchicin verstärken können. Hierzu gehören z.B. Statine, einige Antiarrhythmika und auch Beta-Blocker.
Also sicher kein unkritisch anzuwendendes Routinemedikament für jeden unserer Patienten. Aber – sicher eine Alternative in dem Köcher von Medikamenten, die wir für unsere Patienten zur Verfügung haben sollten und entsprechend hat die FDA im Juni dieses Jahres Colchicin auch für die Anwendung bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zugelassen.
Auch ein jüngster Artikel von Ridker et. al2 in The Lancet unterstützt diese Einschätzung, fanden sie doch bei der Analyse dreier großer Studien zur Statin-Therapie heraus, dass Entzündungsparameter mehr als die Blutfettwerte kardiovaskuläre Ereignisse voraussagen können.
Die Therapie erhöhter Blutfette wird weiterhin eine zentrale Rolle in der Prävention der Arteriosklerose spielen, wie auch die Beachtung einer gesunden Lebensweise. Hohe Fettwerte und Übergewicht bleiben Risikofaktoren.
Aber sie stehen nicht mehr allein und vielleicht sogar nicht an allererster Stelle.
Das bedeutet, dass wir uns mehr mit Entzündungsprozessen, deren Prävention und Therapie beschäftigen müssen. Das beginnt mit Zahnhygiene und endet u.U. mit einer Colchicin Therapie. Weitere Antiphlogistika (entzündungshemmende Medikamente) sind ebenfalls in Erprobung.
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Autor
Prof. Dr. med. Rainer Moosdorf widmet sich seit mehr als 35 Jahren der Herz- und Gefäßchirurgie. Die Schwerpunkte innerhalb der Herz- und Gefäßchirurgie sind Laser- und Arrhythmiechirurgie, endovaskuläre Verfahren einschließlich TAVI’s und endovaskuläre Rekonstruktionen des Aortenbogens, rekonstruktive Chirurgie der Herzkranzgefäße und noch einige Arten der “Französischen Korrektur”. Als Vorstandsvorsitzender des “Medizinischen Netzwerks Hessen” ist er offizieller Vertreter des Landes Hessen auf dem Gebiet der klinischen Medizin und der medizinischen Ausbildung. [mehr]
Quellen
- Colchicine in Patients with Chronic Coronary Disease – Autoren: Nidorf S M, Fiolet A T L, Mosterd A, Eikelboom J W, Schut A, er al. – Publikation: N Engl J Med 2020; 383:1838-47. – DOI: 10.1056/NEJMoa2021372
- Inflammation and cholesterol as predictors of cardiovascular events among patients receiving statin therapy: a collaborative analysis of three randomised trials – Autoren: Ridker P M, Bhatt D I, Pradhan A D, Glynn R J, MacFadyen J G, Nissen S E, et al. – Publikation: The Lancet, 2023;401(10384):1293-1301. – DOI: 10.1016/S0140-6736(23)00215-5.