Ein Appell: Wie lässt sich die Adhärenz endlich verbessern? ▷ Adhärenz ist der Schlüssel zum therapeutischen Erfolg
In diesem Artikel:
- Was bedeutet Adhärenz?
- Inwieweit können Ärzte für eine gute Adhärenz sorgen?
- Wie kann Adhärenz verbessert werden?
- Adhärenz in der Presse
- Daten zur Nicht-Adhärenz in den USA
- Daten zur Nicht-Adhärenz in Deutschland
- Welche Barrieren stehen einer Medikamentenadhärenz im Wege?
- Kann Adhärenz gemessen werden?
- Welche umsetzbaren Schritte können die Therapietreue verbessern?
Eine altgriechische Weisheit besagt: “Wir müssen den kranken Menschen verstehen und ihm näher kommen”.
Was bedeutet Adhärenz?
Unter Adhärenz (Therapietreue) wird in der Medizin das Einhalten therapeutischer Maßnahmen verstanden, welche zwischen Therapeut und Patient gemeinsam “auf Augenhöhe” besprochen und vereinbart werden. Voraussetzung für eine gute Adhärenz ist somit ein partnerschaftlicher Dialog zum Beispiel zwischen Arzt und Patient, Physiotherapeut und Patient, Ernährungsberater und Patient u.a.
Prinzipiell betreffen diese Vereinbarungen alle Formen der Therapie zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Die Verantwortung für die Therapietreue tragen Therapeut und Patient gleichermaßen.
Die Vereinbarungen betreffen überwiegend die medikamentöse Therapie. Die medikamentöse Therapie soll verhindern, dass sich ein Krankheitszustand verbessert oder nicht verschlimmert. Im Bereich der Medikamenten-Adhärenz kann das korrekte und dauerhafte Einhalten eines Medikamentenplans prozentual ausgedrückt werden. In der Literatur wird ein Patient als adhärent bezeichnet, wenn er, gemessen nach Pillenzählung, mindestens 80 Prozent einnimmt.
Nicht eingehaltene Adhärenz (Nicht-Adhärenz) ist ein weitverbreiteter und stark einschränkender Faktor vor allem hinsichtlich der erfolgreichen Langzeitmedikation chronisch kranker Menschen. Ein typisches Beispiel ist die medikamentöse Behandlung des Bluthochdrucks (arterielle Hypertonie).
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Der Begriff Compliance bezieht sich ebenfalls auf die Therapietreue. Er sollte aber nicht mehr verwendet werden, da Compliance von einem Patienten erwartet, dass die ärztliche Empfehlung angenommen und direkt umgesetzt wird. Es handelt sich hierbei um eine unidirektionale Empfehlung oder Anordnung und nicht um das Ergebnis einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Die Verantwortung für die Therapietreue wird dem Patienten auferlegt.
Unter Persistenz der Medikamenteneinnahme versteht man die vorschriftsmäßige und kontinuierliche Einnahme eines Medikaments zwischen der ersten und zuletzt eingenommenen Medikamentendosis.
Inwieweit können Ärzte für eine gute Adhärenz sorgen?
Die Aufgaben einer Ärztin oder eines Arztes sind die krankheitsbezogene Untersuchung eines Patienten, die Feststellung einer Diagnose und die Einleitung einer Therapie. Sie oder er kann auf die Bedeutung der Therapietreue hinweisen, ist aber nicht für deren Kontrolle verantwortlich.
Weder haben Ärzte eine spezifische Ausbildung zur Förderung der Adhärenz noch die Zeit, aufwendige und nachhaltige Gespräche mit Patienten und Angehörigen zu führen. Daran wird sich nichts ändern, im Gegenteil. Der Arzt benötigt Partner im nicht-ärztlichen Bereich auf Augenhöhe, um seine therapeutischen Ziele zu erreichen.
Wie kann Adhärenz verbessert werden?
“Die Kommunikation, das Gespräch mit dem Patienten, sind die besten Mittel, Therapietreue erfolgreich zu vermitteln. Vor allem dann, wenn die Adhärenz-Beratung speziell geschult wurde”.
Dies ist das wesentliche Ergebnis einer 2009 veröffentlichten Metaanalyse von 127 Publikationen zur Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung für die Therapietreue.1
Alle Untersuchungen zum Thema Medikamenten-Adhärenz stellen fest, dass die Mensch-zu-Mensch-Beziehung der Schlüssel zum Erfolg ist. In Deutschland haben eine Reihe von innovativen Konzepten zur Nachsorge von Schlaganfall-Patienten gezeigt, dass die persönliche Betreuung der Patienten und Angehörigen zumindest während des Jahres nach dem Schlaganfall, die Medikamenten-Adhärenz ganz wesentlich verbessert.
Adhärenz in der Presse
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel der Bewusstmachung des Problems Nicht-Adhärenz stammt aus den USA.
2017 wurde von der The New York Times in zwei Artikeln der weltweit größte, schädlichste, teuerste und bisher ungelöste Missstand in der Medizin auf den Punkt gebracht und öffentlich gemacht.
Die Schlagzeile am 17. April 2017 lautete: “The Cost of Not Taking Your Medicine” (Die Kosten, die entstehen, wenn Patienten ihre Medikamente nicht einnehmen).
Hier wird der ökonomische Aspekt ganz in den Vordergrund gerückt. Nicht betont werden allerdings die Vorteile der Therapietreue für die Gesundheit der Menschen.
Die Kernaussagen sind:
- “Die Vereinigten Staaten von Amerika leiden an einer außer Kontrolle geratenen Epidemie, welche sehr teuer ist und mehr Menschen betrifft als alle anderen Erkrankungen.
- Diese Epidemie wird Non-Adherence (übersetzt mangelhafte Therapietreue) hinsichtlich der Medikamenteneinnahme genannt und könnte zu 100 Prozent beseitigt werden.
- Diese Epidemie betrifft vor allem Patienten mit chronischen Erkrankungen. Die häufigsten sind die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, da deren wichtigste Risikofaktoren – zum Beispiel Bluthochdruck, Zucker– und Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht – lange Zeit keine Beschwerden machen. Daher ist die dauerhafte Einnahme von Medikamenten und somit die Adhärenz nur sehr schwer zu vermitteln.
- Die Zahlen zur mangelhaften Therapietreue sind erschütternd. Eine Vielzahl von Studien hat übereinstimmend gezeigt, dass 20 – 30 Prozent der Rezepte für Medikamente gar nicht eingelöst und ca. 50 Prozent der Medikamente nicht wie vorgeschrieben eingenommen werden”.
- Dieser Missstand verursacht in den USA jährlich etwa 125.000 Todesfälle und mindestens 10 Prozent der Krankenhausbehandlungen. Die jährlichen Kosten für das Gesundheitssystem werden auf 100 bis 289 Milliarden Dollar geschätzt”.
Die Schlagzeile der The New York Times vom 11. Dezember 2017 lautete: “People Don’t Take Their Pills. Only One Thing Seems to Help. High-tech approaches and “reminder” packaging don’t work well. Reducing prices does”.
Die Kernaussagen sind:
- “Eine der frustrierendsten Wahrheiten der amerikanischen Gesundheitsversorgung ist, dass die Hälfte oder mehr der verschriebenen Medikamente niemals eingenommen werden.
- Dies wird Nicht-Adhärenz genannt, ist seit langem bekannt, in vielen Studien untersucht und gut dokumentiert, vor allem bei Patienten mit chronischen Erkrankungen.
- Ziele der verschriebenen Medikamente sind die Erhaltung von Leben und Lebensqualität, Verhinderung von Tod, Vermeidung kostenträchtiger Komplikationen einer Erkrankung und die Verhinderung von Krankenhausaufenthalten.
- Auch wenn viel auf dem Spiel steht, nehmen viele Patienten ihre Medikamente nicht.
- Eigentlich sollte die Nicht-Adhärenz ein lösbares Problem sein. Allerdings zeigt die Auswertung vieler Studien, dass in den USA nur die Senkung der Medikamenten-Kosten zu einer messbaren Verbesserung der Adhärenz führt. Auch Versuche mit digitalen Lösungen, z.B. elektronische Erinnerung oder die Markierung von Medikamenten mit Mikro-Chips, enden in eher enttäuschenden Ergebnissen. Das gilt auch für Apps.
Daten zur Nicht-Adhärenz in den USA
In der Reihenfolge der häufigsten Todesursachen in den USA im Jahr 2014 (gesamt 2.626.418) werden die Todesfälle durch Nicht-Adhärenz (125.000) an 6. Stelle hinter den Herzerkrankungen (614.348), Krebserkrankungen (591.700), Atemwegserkrankungen (147.101), Unfällen (135.928), Schlaganfällen (133.103) eingeordnet, noch vor der Alzheimer-Demenzerkrankung (93.541), dem Diabetes mellitus (76,488), der Grippe (Influenza) und Lungenentzündung.2
Diese Daten sind auch auf andere und europäische Wohlstandsgesellschaften übertragbar, nicht aber auf Länder mit mittlerem oder geringem Einkommen. Hier ist bereits die Versorgung mit Medikamenten z.B. wegen insuffizienter Gesundheitssysteme und begrenzter Möglichkeiten zum Zugang einer solidarischen Krankenversicherung unzureichend.
Daten zur Nicht-Adhärenz in Deutschland
2013 hat die ÄrzteZeitung in dem Artikel “Mangelnde Therapietreue. Das Milliardengrab” die mangelnde Adhärenz und Persistenz unter Berufung auf IMF Health (International Monetary Fund) als die größten Verschwender im Gesundheitswesen bezeichnet. Das Sparpotenzial allein für das Medizinsystem wird mit 19 Milliarden Euro beziffert. Das sind 6,7 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben (direkte Krankheitskosten). Für die Gesamtgesellschaft wird das Sparpotenzial auf 38 bis 75 Milliarden geschätzt. Diese Berechnung bezieht sich auf indirekte Krankheitskosten wie Produktivitätsverluste, verringerte Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge, vorzeitige Berentung und Pflegebedürftigkeit.
Von den 19 Milliarden sollen 13 Milliarden auf Kosten der mangelnden Therapietreue gehen, 6 Milliarden auf Kosten der Ärzte (verzögerte Therapie, nicht indizierter Einsatz von Antibiotika, Fehl- oder Vielfach-Medikation u.a.).
Ein gutes Beispiel für die Bedeutung der Therapietreue ist die medikamentöse Behandlung des Bluthochdrucks (arterielle Hypertonie), eine der häufigsten und schädlichsten Erkrankungen.
Jumar und Schmieder schreiben hierzu (wörtlich zitiert):3
“Arterielle Hypertonie trägt mit einer Prävalenz (Häufigkeit des Vorkommens in einer Bevölkerung) von 30 – 40 Prozent entscheidend zur globalen Krankheitslast bei und ist weltweit der Hauptrisikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen) und ihrer Mortalität. Trotz intensiver Bemühungen haben mehr als 50 Prozent der Patienten mit arterieller Hypertonie in Europa einen nicht ausreichend kontrollierten Blutdruck (>140/90 mmHg). Die Behandlung dieser Patienten schließt eine Kombination von Lebensstiländerungen und pharmakologischer Interventionen ein. Um effektiv zu sein, muss die Blutdrucktherapie vom Patienten akzeptiert und in sein tägliches Leben integriert werden. Es konnte gezeigt werden, dass eine Verbesserung der Adhärenz zu einer antihypertensiven Therapie zu einer 23-prozentigen Reduktion des kardiovaskulären Risikos führt.4
Was sind Gründe für mangelhafte Adhärenz?
Die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) stellt fest: “Ein Mensch, der Zusammenhänge nachvollziehen kann, zeigt deutlich mehr Bereitschaft, eigene Anstrengungen auf dem Weg der Genesung in Kauf zu nehmen”.5
Eine verständliche, verständnisvolle und individuell angepasste Information ist der entscheidende Faktor für das Mitwirken von Erkrankten bei einer Therapie.
Patienten sollten bei der Therapietreue unterstützt und nicht beschuldigt werden. Es besteht weiterhin die Tendenz, sich auf patientenbezogene Faktoren als Haupthindernis für die Medikamentenadhärenz zu konzentrieren.
Bestimmende Faktoren sind vielmehr die Leistungserbringer, z.B. die Ärzte im Krankenhaus und in der Praxis, Krankenkassen, Apotheker, auch die Pharmaindustrie. Gefordert ist das gesamte Gesundheitssystem in der Aufgabe, dem Menschen als Individuum verständliche und praktikable Lösungen anzubieten.
Die WHO beziffert 5 Dimensionen (Faktoren), welche Therapietreue einschränken oder verhindern:
Patientenbezogene Faktoren
- Vergesslichkeit
- Angst vor Nebenwirkungen
- psychosozialer Stress
- fehlende Motivation
- mangelhaftes Wissen über die Erkrankung
- fehlendes Vertrauen in die Therapie
Krankheitsbedingte Faktoren
- Schwere der Symptome
- Progressionsrate (Fortschreiten der Erkrankung)
- Zusätzliche Erkrankung (z.B. Depression, Alkohol- oder Drogensucht)
- Verfügbarkeit wirksamer Therapien
Therapiebezogene Faktoren
- Komplexität der Therapie
- Dauer der Behandlung
- Nebenwirkungen
- häufige Änderungen der Behandlung
Medizinische Betreuung, gesundheitssystembedingte Faktoren
- Vertrauen zum Arzt und zum medizinischen Personal
- Systemkapazität
- Aufklärung des Patienten
Sozial/ökonomische Faktoren
- Bildungsniveau
- Alter
- finanzielle Situation
- soziales Umfeld (fehlende Unterstützung)
Welche Barrieren stehen einer Medikamentenadhärenz im Wege?
In der Publikation “Faktoren, die zur Medikamenten-Adhärenz bei Patienten mit einer chronischen Erkrankung beitragen” von K Kvarnström et al 20216 werden die Ergebnisse einer systematischen Überprüfung der internationalen Literatur zur Medikamentenadhärenz im Zeitraum zwischen 2009 und Juni 2021 mitgeteilt.
Von insgesamt 4404 Studien wurden 89 von Experten begutachtete Originalartikel in die Analyse einbezogen. Im Fokus stand die Aufdeckung von Barrieren, welche die Adhärenz in der Einnahme von Medikamenten behindern.
Die wesentliche Aussage ist: “Wir brauchen einen stärker patientenorientierten Ansatz zur Medikamenteneinnahme und ein besseres Verständnis des komplexen Problems der Nicht-Adhärenz”.
Es wird zunächst festgestellt, dass die Studien insgesamt über mehr Hindernisse bzw. Barrieren als über Lösungsansätze zur verbesserten Therapietreue hinsichtlich der Akzeptanz und Einnahme von Medikamenten berichten:
Patientenspezifische Barrieren
Den Patienten fehlen möglicherweise Informationen, um ihre Medikation richtig zu verstehen. Möglicherweise haben sie zu Beginn ihrer Erkrankung Informationen oder eine Adhärenz-Schulung erhalten, jedoch ohne Nachsorge, was Vergesslichkeit unterstützt. Schwer kranke oder in ihrer Aufmerksamkeit gestörte Patienten haben ein eingeschränktes Auffassungsvermögen, was zu Missverständnissen führen kann.
Mangelhafte Motivation oder die Vorstellung, dass ihre Erkrankung nicht behandelt werden kann, ein instabiler Tagesablauf mit wechselnden Tages- und Nachtzeiten und Stress sind bedeutende Barrieren.
Vergiftungsängste und Sorgen einer Schädigung von Leber und Niere sind nicht selten, gerade bei einer Dauertherapie. Dazu kommen “Pillengegner”, mangelhafte Gesundheitsbildung und eingeschränkte Gesundheitskompetenz.
Auch Probleme mit dem Sehen und Lesen spielen eine große Rolle, vor allem, wenn schriftliche Informationen kaum lesbar, schwer verständlich, unübersichtlich und nicht in der Muttersprache abgefasst sind. Auch mehrfache Erkrankungen sind eine Adhärenz-Barriere. Je mehr Medikamente verordnet werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht eingenommen oder verwechselt werden.
Krankheitsspezifische Barrieren
Im Gegensatz zur Einschätzung des Arztes ist eine Erkrankung für den Patienten möglicherweise so wenig einschränkend, dass es sich scheinbar nicht lohnt oder notwendig ist, ein Medikament einzunehmen.
Dies gilt vor allem für Krankheiten, die zunächst keine Beschwerden verursachen, wie z.B. der Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder erhöhte Cholesterin-Werte im Blut – allesamt bedeutende Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
So ist die Behandlung von Schmerzen oder einer Krebserkrankung wesentlich leichter zu vermitteln als die eines Diabetes, obwohl dieser unbehandelt gravierende Folgen an vielen Organen haben kann.
Medikamentenspezifische Barrieren
Medikamente vermitteln das Gefühl von Krankheit, nicht von Gesundheit. Vor allem, wenn sie bei einer chronischen Erkrankung dauerhaft über Jahre eingenommen werden sollten. Sie erinnern ständig an Krankheit.
Eine Adhärenz-Barriere ist auch die Unsicherheit über den Verlauf vieler chronischer Erkrankungen, der nicht zuverlässig vorhergesagt werden kann.
Wird der primär verordnete Handelsname eines Medikaments gegen das Generikum ausgetauscht (oft als“Billigpräparat” mit unsicherer Wirkung wahrgenommen), z.T. in anderer Form und Farbe, ist die Gefahr der Verunsicherung, des Misstrauens hinsichtlich der Wirksamkeit und der Verwechslung groß. Vor allem, wenn mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen werden sollten. Auch die Größe einiger Medikamente kann eine Adhärenz-Barriere sein.
In aller Regel überfordernd und häufig wegen vieler Fremdwörter unverständlich sind die Medikamenten-Beipackzettel. Sie wirken abschreckend, vor allem durch die möglichen, oft ellenlang aufgeführten Nebenwirkungen.
Spezifische Barrieren des Gesundheitswesens
Erschwerter Zugang zur Gesundheitsversorgung und lange Wartezeiten bedingen eine schlechte Medikamenten-Adhärenz. Mehrere Ärzte, die Medikamente verschreiben, mangelhafte Kommunikation der behandelnden Ärzte untereinander und mit dem Apotheker sind gravierende Barrieren. Sie erschweren eine übersichtliche und kontinuierliche Behandlung.
Mangelhafte Unterstützung und Empathie, vor allem der Zeitmangel der Ärzte, verhindern das Verständnis für die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie und eine vertrauensvolle Vereinbarung zur Therapietreue.
Soziale und kulturspezifische Barrieren
Viele Patienten scheuen sich vor einer Stigmatisierung durch ihre Erkrankung.
Die Einnahme von Medikamenten weist auf eine Erkrankung hin, von der niemand oder nur engste Vertraute wissen dürfen. Alternative oder homöopathische Heilmethoden werden oft bevorzugt, da sie “natürlich” sind. Auch religiöse Einflüsse können die Adhärenz untergraben.
Logistische und finanzielle Barrieren
Die Kosten und damit die finanzielle Belastung sind signifikante Barrieren für die Medikamenten-Adhärenz, wie auch die erschwerte Erreichbarkeit von Ärzten oder einer Klinik in ländlichen Regionen.
Zusammengefasst sind – bei aller Komplexität des Problems Adhärenz – die entscheidenden Voraussetzungen für eine verbesserte Medikamenten-Adhärenz:
- Die sektorenübergreifende und abgestimmte Kommunikation der Gesundheitsakteure.
- Verständliche und nachhaltige Informationen, angepasst an die Bedürfnisse, Eigenheiten und damit die Persönlichkeit des Patienten. Auch die Gesundheitsbildung und kognitive Fähigkeiten sind zu berücksichtigen, um das Ziel der Therapietreue zu erreichen.
- Die Vermittlung von Therapietreue ist eine zeit- und zuwendungsintensive Aufgabe. Sie kann nur von Mensch zu Mensch gelingen, durch spezifisch geschulte Berater.
- Ergänzend, aber nicht problemlösend, können Hilfsmittel wie die künstliche Intelligenz, elektronische Alarmsystem oder eine Adhärenz-App hilfreich sein.
Kann Adhärenz gemessen werden?
Therapietreue ist nur schwer kontrollierbar und daher schwer zu messen. Sehr viele und individuell sehr unterschiedliche Faktoren bestimmen die Therapietreue.
Messgröße | Erfolgswahrscheinlichkeit |
---|---|
Schriftliche Aufzeichnungen und mündliche Angaben des Patienten | Unzuverlässig |
Schriftliche Aufzeichnungen von Angehörigen | Zuverlässiger |
Schriftliche Aufzeichnungen von medizinischem Personal | Zuverlässig |
Überwachung von Wiederholungsrezepten in der eigenen Praxis und der Apotheke | Schwierig, wenn mehrere Ärzte Medikamente verordnen. Vernetzung notwendig. |
Standardisierte Fragebögen | Aufwändig und unzuverlässig |
Elektronische Erfassung von Datum und Uhrzeit der Öffnung einer Medikamentenbox | Keine Auskunft über tatsächliche Medikamenteneinnahme |
Erinnerungs-Alarm über das mobile oder stationäre Telefon | Oft störend, fraglich wirksam |
Microchips in Medikamenten, deren Darmpassage dem Hausarzt angezeigt wird | Aufwendig, zu eingreifend |
Adhärenz-App | Vielversprechend, vor allem für digital kompetente und kognitiv gesunde Menschen |
Blutuntersuchungen auf verordnete Substanzen | Aufwendig und unzuverlässig, da nicht selten Einnahme des Medikaments kurz vor dem nächsten Arztbesuch mit Blutabnahme |
Adhärenz-Hilfen
Übereinstimmend wird festgestellt, dass die größte Hilfe das zeitaufwendige, vertrauensvolle und aufklärende Gespräch mit dem Arzt, dem medizinischen Personal, mit Therapeuten, Pflegepersonal und dem Apotheker ist. Die Gesprächsführung muss durch eine Ausbildung zum Adhärenz-Berater erlernt werden.
Eine große Hilfe ist nachhaltige Gesundheitsbildung, die bereits in der Schule nicht nur über Gesundheit im Sinne von Ernährung und Bewegung, sondern auch über Krankheiten und deren Folgen aufklärt.
Pragmatische, “kleine” Hilfen sind Medikamenten-Ausweise mit Hinweis auf den Sinn der Verabreichung und die Dosierung. Hilfreich ist eine Medikamentenbox mit wöchentlicher Füllung. Zur Erinnerung eignet sich eine Magnettafel mit der Medikamentenliste, angebracht am Kühlschrank, also an einem Ort, der zwangsläufig mehrmals täglich aufgesucht wird.
Welche umsetzbaren Schritte können die Therapietreue verbessern?
Die Problematik der Nicht-Therapietreue, also die ökonomische Dimension und die negativen Folgen für die Gesundheit der Menschen müssen öffentlich bewusst gemacht werden. Hier sind die Medien gefordert.
In allen Abschnitten der Erziehung und Bildung, in der Schule, im Studium – vor allem im Medizinstudium – und im Arbeitsleben muss die Bedeutung der Therapietreue für die Gesundheit nachhaltig angesprochen werden. Hier sind die Verantwortlichen der Politik, des Medizinsystems und der Arbeitgeber gefordert.
Übereinstimmend haben viele Studien zur Adhärenz gezeigt, dass Therapietreue am besten von Mensch zu Mensch vermittelt werden kann. Gefordert sind daher “Adhärenz-Berater” auf allen Ebenen und in allen Einrichtungen unseres Gesundheitssystems. Vor allem in der Ärzteschaft, bei medizinischem Hilfspersonal, in der Pflege, bei Therapeuten, Sozialarbeitern, Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen u.a. (Interessante Ansätze finden sich bei copatient.de).
Die Pharmaindustrie und Apotheken als Hauptprofiteure einer verbesserten Therapietreue, könnten sich mit unternehmerischen Mitteln und Konzepten verstärkt für verbesserte Adhärenz engagieren. Vor allem zur Finanzierung pragmatischer Lösungen.
Zusammenfassung und Vision
- Die Vermittlung bzw. Bewusstmachung von Therapietreue ist an erster Stelle ein ethisches Anliegen. Ethisches Handeln ist: “Dem Menschen Gutes tun”.
- Die kaum vorstellbare Dimension der Nicht-Adhärenz ist bekannt und seit Jahrzehnten in vielen Publikationen beschrieben. Die Bemühungen der wissenschaftlichen Medizin, das Problem Nicht-Adhärenz zu lösen, haben nur ansatzweise zur Problemlösung beigetragen. Folglich ist ein Umdenken dringend angezeigt.
- Grundvoraussetzungen einer Bewusstseinsbildung für Adhärenz und deren Umsetzung sind zunächst die Gesundheitsbildung und Gesundheitskompetenz. Sie zu erreichen, ist Aufgabe der Politik und der gesamten Gesellschaft.
- Ein Großteil der immens hohen Kosten der Nicht-Adhärenz könnte vermieden werden. Die Forderung ist somit, menschengerechte und pragmatische Konzepte zu entwickeln, die auf der Basis bisheriger Erkenntnisse diesen Missstand beseitigen könnten.
- Denkbar und nach aller Erfahrung das wirksamste Instrument könnte ein neuer Berufsstand oder die Zusatzqualifikation im Gesundheitssystem: Der Adhärenz-Berater (Adherence-Coach) sein.
- Das übliche Gegenargument (die Personalkosten) greift nur vordergründig. Aus dem Milliardengrab der Nicht-Adhärenz ließen sich Tausende Stellen finanzieren.
- Die Hauptgewinner der verbesserten Medikamenten-Adhärenz wären die Pharmaindustrie und Apotheken. Von Ihnen ist deshalb ein hohes strategisches und finanzielles Engagement zu fordern. Möglicherweise auch die Federführung im Versuch, die Wende herbeizuführen.
Wer nimmt den Stab in die Hand? Wer übernimmt die Verantwortung?
- Was versteht man unter Therapietreue bzw. Adhärenz?
- Wieso ist Therapietreue so wichtig?
- Wie kann ich meine Therapietreue verbessern?
- Einem erneuten Schlaganfall mit Medikamenten vorbeugen
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autor
Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurozentrum Ravensburg. Als Chefarzt leitete er die Abteilung für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Diagnostik und Behandlung von Schlaganfällen. [mehr]
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Quellen
- Physician communication and patient adherence to treatment: a meta-analysis – Autoren: Kelly B Haskard Zolnierek, M Robin Dimatteo – Publikation: Med Care. 2009 Aug;47(8):826-34 – DOI: 10.1097/mlr.0b013e31819a5acc
- Don’t Blame Doctors for Medication Nonadherence – Autoren: Skeptical Scalpel, MD – Publikation: Mo Med. 2018 Jan-Feb; 115(1): 11 – PMID: 30228669
- Bluthochdruck und Adhärenz – Autoren: Jumar A, Schmieder – Publikation: Der niedergelassene Arzt 10,79-84
- Global Burden of Blood-Pressure-related Disease – Autoren: Lawes CM, Van der Hoorn s, Rodgers A – Publikation: Lancet 371; 1513-1518
- Adherence to long-term therapies : evidence for action – World Health Organization – URL: https://apps.who.int/iris/handle/10665/42682
- Factors Contributing to Medication Adherence in Patients with a Chronic Condition: A Scoping Review of Qualitative Research – Autoren: Kirsi Kvarnström, Aleksi Westerholm, Marja Airaksinen, Helena Liira – Publikation: Pharmaceutics 2021, 13(7), 1100 – DOI: 10.3390/pharmaceutics13071100