Die stufenweise Wiedereingliederung nach leichtem Schlaganfall ▷ Arbeitsfähig im zweiten Anlauf
In diesem Artikel:
- Der Praxis-Fall: Herr Meier wird von der Alltagsrealität eingeholt
- Häufig unterschätzt: Die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach einem Schlaganfall
- Die Bestandsaufnahme: “Was ist nur mit mir los?”
- Der zweite Anlauf: Wiedereingliederung an den Arbeitsplatz
- Was ist eine stufenweise Wiedereingliederung?
- Der Praxis-Fall: Die stufenweise Wiedereingliederung von Herrn Meier
- Fazit
Der Praxis-Fall: Herr Meier wird von der Alltagsrealität eingeholt
Herr Meier, 44 Jahre, hatte Glück im Unglück: Er hat nur einen leichten Schlaganfall erlitten und ihm wurde rechtzeitig geholfen. In der Klinik wurde das Blutgerinnsel umgehend aufgelöst. Es hatte einen Gefäßverschluss einer kleinen Hirnarterie verursacht. Sichtbare Hirnschäden sind nicht verblieben, ebenso keine Lähmung, Sprachstörung oder andere merkliche Symptome.
Vier Wochen nach der Entlassung aus der Klinik nahm er seine Tätigkeit als Sachbearbeiter bei einer Versicherung wieder auf. Körperlich ging es ihm gut, auch seelisch hatte er sich von dem Schrecken mit Unterstützung seiner Frau recht schnell erholt. Daher wollte er so schnell wie möglich wieder zurück zur Normalität und zur Arbeit. Im Alltag zuhause klappte alles soweit gut. Für manches brauchte er länger, darin sah er kein Problem. Nach Rücksprache mit seiner Hausärztin stieg er also wieder im vollschichtigen Umfang ein. Damit war er arbeitsfähig.
In der Realität des Arbeitsalltags merkte er jedoch zunehmend, dass er sich nur schwer auf seine Aufgaben konzentrieren kann. Die dringlichen Aufträge konnte er nicht schnell genug bearbeiten. Die vielen Telefonate zwischendurch empfand er als anstrengend und zum Teil konnte er sich die Gesprächsinhalte nicht merken. Das kannte er überhaupt nicht von sich. Es irritierte ihn und machte ihn unsicher. Er versuchte, Anrufe zu vermeiden und Sachverhalte schriftlich über E-Mail zu klären.
Zur zweiten Tageshälfte hin wurde er häufig müde und nickte gelegentlich kurz weg. Ein jüngerer Kollege fragte ihn einmal flapsig, ob er denn nachts nicht zum Schlafen käme. Das war ihm sehr peinlich. Er sah sich in Erklärungsnot, warum seine Leistung so plötzlich nachgelassen hat. Angst und Selbstzweifel kamen hinzu. Es fiel ihm schwer, seine sonst positive Haltung und Motivation zu bewahren. Er reagierte öfter gereizt, was ihn gleichzeitig ärgerte und noch mehr frustrierte. Schlimm für ihn war vor allem, dass er sich nicht verstanden fühlte.
Als ein Konflikt mit seinem Chef eskalierte, zog er die Reißleine auf Drängen einer Kollegin. Drei Wochen nach seinem Einstieg ließ er sich erneut krankschreiben. Er spürte die Grenzen seiner Belastbarkeit, war überfordert und fragte sich nach diesem missglückten Arbeitsversuch: „Was ist denn nur mit mir los?“ und „Wie soll es jetzt weitergehen?“
Häufig unterschätzt: Die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach einem Schlaganfall
Die Rückkehr zur Arbeit und wie die berufliche Wiedereingliederung abläuft, ist früher oder später eine entscheidende Frage für viele Schlaganfall-Betroffene.
Generell ist Arbeit für viele Menschen ein zentrales Thema im Leben. Nicht nur zur Existenzsicherung, sondern auch für die soziale Teilhabe, für das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl.
Ein Schlaganfall führt in der Regel zu einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit. In vielen Fällen verbleiben Einschränkungen und eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit. Von denen, die in das Berufsleben zurückkehren, übt später ein Großteil der Betroffenen eine Tätigkeit mit geringeren Anforderungen aus, oft verbunden mit qualitativen und finanziellen Einbußen. An denselben Arbeitsplatz und in die bisherige Tätigkeit kehren die wenigsten ohne Einschränkungen zurück.
Die individuelle Prognose für eine erfolgreiche Rückkehr in das Arbeits- und Erwerbsleben hängt von vielen Faktoren ab. Dazu zählen vor allem:
- die Art, Lokalisation und Ausprägung der Hirnschädigung,
- Auswirkung auf körperliche, kognitive und psychische Funktionen und Fähigkeiten,
- persönliche Ressourcen und Strategien zur Bewältigung, Kompensation und Anpassung,
- Anforderungen der beruflichen Tätigkeit und Bedingungen des Arbeitsplatzes,
- Unterstützung im sozialen Umfeld und finanzielle Möglichkeiten.
Und obwohl ein Schlaganfall keine sichtbaren Spuren hinterlassen muss, kann das Arbeitsleben auch bei leichtgradigen Folgen aus den Fugen geraten. Vor allem, wenn sich im Arbeitsalltag Probleme bemerkbar machen, sobald die Betroffenen mit komplexeren Aufgaben, Unvorhersehbarem und Zeitdruck konfrontiert sind.
Zusätzlich können psychische Beschwerden und psychosoziale Aspekte, eine Kündigung oder Konflikte bei der Arbeit den Verlauf kompliziert werden lassen.
Wie bei Herrn Meier. Er konnte plötzlich nicht mehr so agieren wie er wollte und es sich nicht erklären. Das brachte ihn in Bedrängnis. Auf sein verändertes Verhalten reagierte sein Umfeld mit Unverständnis und es kam zu Konflikten. Anfangs unterschätzte und verkannte Hinweise wurden im Verlauf als neuropsychologische Symptome infolge des Schlaganfalls diagnostiziert.
Die gute Nachricht: Die funktionellen Beeinträchtigungen sind behandelbar und mit der Zeit rückläufig. Diese Phase der Rehabilitation dauert allerdings länger an. Währenddessen kann die Rückkehr zur Arbeit über eine stufenweise Wiedereingliederung erfolgen.
Mit einer sorgfältigen Bestandsaufnahme von kritischen Anforderungen sowie von individuellen und betrieblichen Möglichkeiten lässt sich die Rückkehr ins Berufsleben gut vorbereiten. Somit steigen die Erfolgschancen für einen gelungenen Wiedereinstieg.
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Die Bestandsaufnahme: “Was ist nur mit mir los?”
Nicht immer sind ausgeprägte körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen nach einem Schlaganfall die Ursache für eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit. Einschränkungen der Belastbarkeit und eine Behinderung mit Problemen beim Wiedereinstieg in das Berufsleben können auch bei leichtgradigen Folgen wie im Fall von Herrn Meier vorkommen.
Besonders arbeitsrelevant bei erworbenen Hirnschäden sind Einschränkungen von neurokognitiven und organisch-psychischen Funktionen und dadurch bedingte Teil-Leistungsstörungen.1
Ausführliche Informationen zu kognitiven Störungen nach einem Schlaganfall, den Symptomen, Behandlungsmöglichkeiten und Alltags-Tipps finden Sie hier.
Häufige Fähigkeitsstörungen, die zu einer deutlich verminderten Arbeitsleistung führen:
- schnelle Erschöpfung und verstärkte Müdigkeit (Fatigue Syndrom)
- Wahrnehmungsstörungen, Wortfindungsstörungen und Sprachprobleme
- Aufmerksamkeits-, Gedächtnisschwäche und Lernschwierigkeiten
- Verhaltens- und Wesensveränderungen, emotional-affektive Instabilität
- Probleme beim Lesen, Rechnen, Schreiben und PC-Arbeiten
- allgemeine körperliche und psychische Minderbelastbarkeit
Konkrete Beispiele für Beeinträchtigungen durch neuropsychologische Symptome im Beruf und warum der Wiedereinstieg nicht zu früh erfolgen sollte, finden Sie hier.
Sind diese Symptome mild ausgeprägt, ist es herausfordernd, sie frühzeitig zu erkennen, zumal sie unsichtbar sind und sich unspezifisch äußern. Sie verstärken sich jedoch im Alltag und spätestens bei der Arbeit mit zunehmenden Anforderungen. Neu aufgetretene und unerklärliche Beschwerden sollten daher hellhörig werden lassen und zu einer ärztlichen Rücksprache führen.
Bei Verdacht auf eine kognitive Beeinträchtigung wird eine neuropsychologische Untersuchung Klarheit bringen. Nach Möglichkeit sollte diese noch vor der Wiedereingliederung veranlasst werden, um die Rückkehr an den Arbeitsplatz von vornherein durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen.
Gegebenenfalls ist bei besonderen Anforderungen der beruflichen Tätigkeit, spezifischen Aufgaben oder schwierigen Bedingungen im Arbeitsumfeld zusätzlich eine berufsbezogene medizinisch-therapeutische Abklärung sinnvoll.
Grundlage für eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist eine fundierte Diagnostik zur Feststellung und Bewertung kognitiver Defizite und vorhandener Fähigkeiten. Dies erfolgt im Abgleich mit dem konkreten Anforderungsprofil der beruflichen Tätigkeit. Erst mit einer sorgfältigen Bestandsaufnahme und einem klaren Bild der Ist-Situation lässt sich die Frage hinreichend beantworten, wie es beruflich weitergeht.
Der zweite Anlauf: Wiedereingliederung an den Arbeitsplatz
Die Chancen für eine erfolgreiche Wiedereingliederung nach einem Schlaganfall stehen umso besser, je besser diese vorbereitet wird. In der Praxis hat sich ein strukturiertes Vorgehen bewährt. Im Idealfall wird die Rückkehr an den Arbeitsplatz auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten, systematisch geplant, koordiniert und durch persönliche Ansprechpersonen begleitet.
Mit dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) existiert dafür zugleich eine gesetzliche Grundlage2: Hierdurch sind ArbeitgeberInnen verpflichtet, allen ArbeitnehmerInnen, die mehr als sechs Wochen im Laufe eines Jahres arbeitsunfähig waren, ein BEM anzubieten.
Das BEM ist ein Verfahren, das die Rückkehr zur Arbeit aus einer längeren Krankheitsphase erleichtern und nachhaltig unterstützen soll. Ziel ist es auch, frühzeitig gegenzusteuern, wenn Probleme auftreten, sich z. B. Tendenzen zur Überforderung zeigen, um das Risiko einer erneuten Arbeitsunfähigkeit zu reduzieren.
Die Umsetzung handhaben die Unternehmen unterschiedlich und es gibt eine Reihe an Konzepten und Maßnahmen im Rahmen des BEM. Eine davon ist die sogenannte stufenweise Wiedereingliederung.
Ausführliche Informationen zum BEM, Beratungsstellen und Kontaktadressen gibt beispielsweise die Broschüre vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales3.
Was ist eine stufenweise Wiedereingliederung?
Die stufenweise Wiedereingliederung (SWE), umgangssprachlich bekannt unter „Hamburger Modell“, ist eine ärztlich eingeleitete Maßnahme zur Steigerung der Arbeitsbelastung.4
Ziel ist es, Menschen, die ihre Tätigkeit nach längerer schwerer Krankheit wieder teilweise ausüben können, Schritt für Schritt an die volle Arbeitsbelastung heranzuführen. Der therapeutische Zweck besteht in einer stufenweisen Arbeits- und Belastungserprobung, die gleichzeitig ein Alltagstraining unter realen Bedingungen ist. Daher ist die Wiedereingliederung in der Regel am bisherigen Arbeitsplatz vorgesehen.
Nach dem Phasenmodell der Neurorehabilitation ist die stufenweise Wiedereingliederung in Phase E anzusiedeln – in der Nachsorge. Die SWE verknüpft den Übergang von der medizinischen Reha (Phase A bis D) zur beruflichen Reha.
Für Sie als Patientin oder Patient wichtig zu wissen:
Während der stufenweisen Wiedereingliederung sind Sie arbeitsunfähig. Der oder die ArbeitgeberIn kann Sie für zumutbare Tätigkeiten gemäß ärztlicher Empfehlung einsetzen, hat aber keinen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Ihre Arbeitsleistung wie bei einer Teilzeitbeschäftigung. Das soll das Risiko für Beschäftigte in der Eingliederungsphase reduzieren, durch Leistungsdruck in eine Überlastung und Überforderung zu geraten.
Sie erhalten daher in diesem Zeitraum keinen Arbeitslohn, sondern in der Regel weiterhin Krankengeld, wenn der Leistungsträger die gesetzliche Krankenkasse ist. Wichtig ist, dass die Arbeitsunfähigkeit lückenlos ärztlich bescheinigt wird.
Die gesetzliche Rentenversicherung ist zuständig, wenn zuvor eine Reha zu deren Lasten erfolgte und sich die Wiedereingliederung unmittelbar daran anschließt. Für die Zeit des Verdienstausfalls gibt es Übergangsgeld.
Wird die Notwendigkeit für die stufenweise Wiedereingliederung in der Reha-Einrichtung festgestellt, wird sie in der Regel von dort aus eingeleitet. Das erfolgt mithilfe des Sozialdienstes und über die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Diese können sich bei Bedarf und in Ihrem Einverständnis mit der Betriebsärztin oder dem Betriebsarzt zur Arbeitsbelastung austauschen.
Was sind die Voraussetzungen und wie läuft das in der Praxis ab?
Die stufenweise Wiedereingliederung erfolgt
- in Abstimmung mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin, welcher/welche die Maßnahme einleitet, im Verlauf begleitet und die Belastung gegebenenfalls anpasst.
- in Absprache mit dem Arbeitgeber (eventuell zusätzlich Personal-, Betriebsrat, Vertrauensperson als Interessenvertretung und Integrationsamt bei Schwerbehinderung)
- bei Bedarf mit Einbeziehen des Betriebsarztes oder der Betriebsärztin, was aufgrund der Kenntnis der Arbeitsplätze durchaus sinnvoll ist.
Die stufenweise Wiedereingliederung wird über ein Antragsformular beim zuständigen Sozialversicherungsträger beantragt, der über die Kostenübernahme der Maßnahme entscheidet. Meistens ist das die gesetzliche Kranken- oder Rentenversicherung.
Neben der angestrebten Steigerung der Belastung geht es um die Steigerung von kognitiven Kapazitäten für das Konzentrations- und Durchhaltevermögen und andere Fähigkeiten. Hierfür sind fachliche Anforderungen so zu gestalten, dass sie an verbliebenen Fähigkeiten und Kompetenzen anknüpfen. Ebenso wichtig ist es, Erfolgserlebnisse zu ermöglichen und rückzumelden, denn das stärkt das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit.
Aus medizinischer Sicht wird zu Beginn geprüft, ob eine teilweise Belastbarkeit für die wesentlichen funktionellen Anforderungen und Aufgaben der Tätigkeit vorliegt. Die Arbeitszeit sollte mindestens zwei bis drei Stunden täglich betragen, gegebenenfalls beginnend mit einzelnen Wochentagen, z. B. an therapiefreien Tagen. Der Arbeitsweg und die Prüfung der Fahreignung sind zu berücksichtigen.
Stellt sich im Verlauf heraus, dass Veränderungen der Arbeitsgestaltung oder ein Umbau des Arbeitsplatzes nötig sind, kann das Teil der Wiedereingliederung sein. Ebenso können ergonomische oder technische Hilfsmittel erprobt und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt werden.
Durch eine Reha-Beratung und Bedarfsanalyse können oft schon im Vorfeld geeignete Maßnahmen rechtzeitig eingeleitet werden. Ist die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nicht absehbar möglich, sind andere Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation zu prüfen.
Der Belastungsaufbau ist in einem Wiedereingliederungsplan definiert.
Üblicherweise beginnt der Wiedereinstieg mit reduzierter (mindestens halbierter) Arbeitszeit. Im Verlauf erfolgt Schritt für Schritt eine ärztlich begleitete Steigerung sowohl der Arbeitszeit als auch der Anforderungen. Die Gesamtdauer für die SWE liegt zwischen sechs Wochen und sechs Monaten. Nach einem Schlaganfall kann es im Einzelfall auch deutlich länger dauern.
Aus dem vor Beginn ärztlich erstellten Wiedereingliederungsplan gehen genaue Angaben zu den einzelnen Belastungsstufen hervor und die Prognose, wann voraussichtlich mit der vollen Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist4.
Im Stufenplan wird aufgeführt, in welcher Art und Weise Tätigkeiten mit gesundheitlich bedingten Einschränkungen möglich sind und welche Belastungen zu vermeiden sind. Ebenso unterstützende Maßnahmen am Arbeitsplatz, eventuell begleitende Therapien und weitere Angaben (siehe eigenes Beispiel unten).
Empfehlungen darüber hinaus:
Aus Erfahrung und anhand von klinischen Beobachtungsstudien ist zu empfehlen, die Rückkehr an den Arbeitsplatz therapeutisch und nach individuellem Bedarf tätigkeitsbezogen zu begleiten, gegebenenfalls auch mit externer Beratung oder Coaching.
Kompetente fachliche Betreuung und lebensnahe Hilfe zur Selbsthilfe kann Schlaganfall-Betroffene darin unterstützen, sich ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen bewusst zu werden, diese in der Arbeits- und Alltagsbewältigung gezielt auszubauen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Das trägt wiederum dazu bei, Fortschritte zu stabilisieren, Potenziale zu nutzen und in schwierigen Phasen rechtzeitig aktiv zu werden. So können Rückschläge im Verlauf abgewendet oder angemessen bearbeitet und die Beschäftigungsfähigkeit langfristig gesichert werden.
Mit einem auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Verfahren zur stufenweisen Wiedereingliederung kann in vielen Fällen eine zeitnahe und nachhaltig erfolgreiche Rückkehr realisiert werden. Damit das hierzulande flächendeckend umsetzbar wird, ist ein Ausbau von sektorenübergreifenden Strukturen zur Schlaganfall-Nachsorge nötig. In Gesundheits- und Sozialsystemen und in der Arbeitswelt in den Unternehmen und Betrieben.
Es empfiehlt sich eine regelmäßige Rücksprache und im Verlauf enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin, den beteiligten therapeutischen und betrieblichen Akteuren und den zuständigen Leistungsträgern. Für die volle Teilhabe im beruflichen und sozialen Leben kommt es auf Teamwork an.
Wenn sich abzeichnet, dass die Wiederaufnahme der früheren Tätigkeit am bisherigen Arbeitsplatz auf Dauer nicht aussichtsreich ist, kommt eine innerbetriebliche Umsetzung auf einen Arbeitsplatz mit leistungsgerechten Tätigkeiten in Betracht. Inwieweit eine weiterführende Qualifizierung oder Umschulung infrage kommt, ist im Einzelfall zu prüfen. Entscheidend ist auch, wie hoch der Grad der Behinderung ist, der vom Versorgungsamt festgestellt wurde.
Können Betroffene nur noch zeitlich eingeschränkt arbeiten, gibt es ebenso verschiedene Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten der beruflichen Rehabilitation, z. B. von der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit und den Integrationsämtern.
Es besteht zudem die Möglichkeit, eine Teilerwerbsminderungsrente zu beantragen, um zusätzlich etwas hinzuverdienen zu können. Hierzu gibt die Rentenversicherung Auskunft.
Der Praxis-Fall: Die stufenweise Wiedereingliederung von Herrn Meier
Die Bestandsaufnahme: Neuropsychologische Diagnostik und Therapie
Nachdem Herr Meier den Arbeitsversuch abgebrochen hatte, überwies ihn seine Hausärztin an einen Neuropsychologen zur Abklärung der kognitiven Störungen. Die Untersuchung bestätigte die klinischen Hinweise mit folgendem Befund:
„Leicht bis mäßig ausgeprägte Symptome wie Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen und Antriebsschwäche. Eingeschränkt sind geistige Fähigkeiten wie komplexere Aufgaben erledigen, Probleme lösen und strukturieren. Stufenweise Wiedereingliederung empfohlen, ab sofort möglich. Verlaufskontrolle in sechs Monaten.“
Ergänzend empfohlen und ärztlich verordnet wurden Hirnleistungs-Training durch Ergotherapie und ein spezielles Online-Lernprogramm, das er täglich als Heimtraining absolvierte.
Im Verlauf machte Herr Meier kontinuierlich kleine Fortschritte bei der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung.
Das Klärungs- und Rückkehrgespräch
Mit seinem Chef hatte er sich kurz nach dem Streit ausgesprochen. Dieser reagierte mit Verständnis für seine Lage und signalisierte, dass er eine stufenweise Wiedereingliederung begrüßen und unterstützen würde. Sein Team stand ebenfalls hinter ihm.
In einem nächsten Gespräch wurde offen über die gesundheitlichen Einschränkungen und die Auswirkungen auf die Arbeitsleistung gesprochen. Gemeinsam wurde überlegt, welche Änderungen betrieblich möglich sind, wie eine Anpassung der Arbeitsorganisation und -gestaltung umgesetzt werden kann. Gegenseitige Erwartungen und Bedürfnisse wurden kommuniziert und wöchentliche kurze Feedback-Gespräche vereinbart.
Die stufenweise Wiedereingliederung
Die Hausärztin schlug Herrn Meier daraufhin eine stufenweise Wiedereingliederung über drei Monate vor. Diese Dauer sah sie nach dem ersten missglückten Arbeitsversuch als notwendig an.
Ziel war es, Rückfälle durch eine erneute Überforderung zu verhindern, Fortschritte nachhaltig zu stabilisieren und die Belastungserprobung Schritt für Schritt zu steigern.
Sie sprach sich mit dem Betriebsarzt zum Stufenplan ab und beide verständigten sich auf folgende Empfehlungen zur Wiedereingliederung:
„Einfache, planbare, sich wiederholende Arbeiten, PC-Arbeiten sind ab sofort uneingeschränkt möglich. Komplizierte und neue Aufgaben sind nach strukturierter Umsetzung und Anleitung möglich. Im Kundenservice (z. B. Telefonate) wird bei Bedarf Unterstützung durch Kollegen empfohlen. Arbeiten unter Zeit- und Termindruck sollten in den nächsten drei Monaten vermieden werden.“
Der Wiedereingliederungsplan sah so aus:
Beginn mit reduzierter Arbeitszeit täglich bei einer 5-Tage-Woche: zwei Stunden im ersten Monat – vier Stunden im zweiten Monat – sechs Stunden im dritten Monat – die letzten beiden Wochen Vollzeit. Umsetzung unter Berücksichtigung oben genannter gesundheitlicher Einschränkungen.
Mit diesem Vorgehen waren alle Beteiligten einverstanden. Herr Meier nahm seine Tätigkeit ein paar Wochen später nach diesem Schema wieder auf.
Unterstützende Maßnahmen am Arbeitsplatz:
Sowohl die Arbeitsorganisation als auch der Arbeitsplatz wurden angepasst:
- Kritische Aufgaben- und Verantwortungsbereiche gab Herr Meier zunächst ab, um weniger Leistungs- und Termindruck ausgesetzt zu sein. Der Faktor Zeit war aktuell wesentlich, weil er für geistige Aktivitäten länger brauchte, je komplexer die Anforderungen waren.
- Telefonate im Kundenservice übernahm im ersten Monat vertretungsweise seine Kollegin.
- Er zog in ein kleineres Büro nebenan um, wo er die Tür schließen und abgeschirmt von Umgebungsgeräuschen ungestört arbeiten konnte.
Über die psychosoziale Beratung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements nahm er das Angebot an, sich zu Stressbewältigung im Arbeitsalltag beraten zu lassen.
Nachdem die Arbeitssituation geklärt war, konnte sich Herr Meier besser auf die Therapien einlassen und akzeptieren, dass es länger dauern würde.
Psychosoziale Prozessbegleitung
Einmal wöchentlich nahm er über die unternehmensinterne Beratung Gespräche mit einem Psychologen in Anspruch. Mit ihm konnte er im Vertrauen auch über unangenehme Gefühle, Ängste und Bedenken sprechen, die zwischendurch hochkamen. Das entlastete ihn und er probierte Methoden aus, wie er sich selbst unterstützen kann.
Selbstcoaching- und Meditations-Übungen halfen Herrn Meier, seine Gedanken, Gefühle und Körpersignale achtsam wahrzunehmen und sein Verhalten in schwierigen Situationen zu verstehen. Zusammen mit den Gesprächen konnte er seine inneren Antreiber für den hohen Leistungsanspruch identifizieren und persönliche Ressourcen erkennen, die Kraft spenden. Er lernte, sein Befinden zu reflektieren und auf Warnzeichen für Überlastungs- und Stress-Symptome zu achten.
Um dem vorzubeugen, entwickelte er Strategien, wie er mit aktuellen Herausforderungen in seinem Arbeitsalltag umgehen und Aufgaben besser bewältigen kann. Beispielsweise, indem er Abläufe anders strukturierte, Aufgaben priorisierte und Zeitfenster mit Puffern vorplante. Zunächst lag der Fokus auf dem Erledigen von einfachen und sich wiederholenden Aufgaben. Bei umfassenderen Sachverhalten ließ er sich schriftliche Anleitungen geben, damit er sich in Ruhe einarbeiten kann.
Hinsichtlich des Selbstmanagements lag ein weiterer Schwerpunkt darin, bei neuen Aufgaben den Anforderungsgrad und sein Leistungsvermögen grob abzugleichen. Daran konnte Herr Meier stärker beanspruchende Tätigkeiten erkennen, bei denen es mehr Vorbereitungszeit, größere Anstrengungen und gegebenenfalls Unterstützung braucht. Längere und intensivere Belastungsphasen lernte er, durch Entspannungsübungen und aktive Pausen auszugleichen.
Transfer im Alltag
Der Umgang mit der beruflichen Alltagsbelastung fiel Herrn Meier zunehmend leichter. Er konnte sich besser auf seine Aufgaben konzentrieren. Nach und nach konnte er wieder umfassendere Aufträge bearbeiten, die nicht zeitkritisch waren. Er übernahm zeitweise wieder Kundentelefonate und arbeitete Kollegen bei Projekten zu. Die Anforderungen waren herausfordernd, aber sie strengten ihn inzwischen weniger an als beim ersten Arbeitsversuch.
Durch den Wiedereinstieg in Teilzeit und die ergotherapeutische Beratung bei der Anpassung seiner Tagesstruktur konnte er seine Therapien und sein Privatleben gut mit der Arbeit vereinbaren. Anfangs war es schwierig für ihn, genug Ruhezeiten einzuplanen und sich zwischendurch Auszeiten zuzugestehen. Aber es gelang ihm, er fühlte sich fitter und war tagsüber weniger müde.
Die erfolgreiche Wiedereingliederung
Die stufenweise Wiedereingliederung konnte nach drei Monaten erfolgreich mit Wiedereintritt der vollen Arbeitsfähigkeit beendet werden.
Bislang sind keine längeren Krankschreibungen aufgetreten. Therapien macht Herr Meier weiterhin, zur psychosozialen Beratung geht er bei Bedarf. Restliche kognitive Defizite kann er weitgehend kompensieren, solange er auf sein eigenes Tempo und seine Grenzen achtet. Das fällt ihm noch immer nicht leicht, aber er nimmt es ernst und ist motiviert, dranzubleiben.
Fazit
Für die erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz nach einem Schlaganfall ist es wichtig, den Fokus auf die Möglichkeiten und den individuellen Entwicklungsprozess zu richten: Durch die Förderung von Fähigkeiten, durch die Stärkung von persönlichen, gesundheitlichen und psychosozialen Ressourcen und durch das Schaffen von geeigneten Rahmenbedingungen. Hierbei ziehen alle Beteiligten an einem Strang.
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- Die Folgen des Schlaganfalls
- Beruf und Schlaganfall: Der Wiedereinstieg
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Autorin
Dr. med. Karin Kelle-Herfurth, MHBA ist selbständige Beraterin in Hamburg. Sie begleitet Solo-Selbständige und Menschen in Führung nach Krankheit in der Neuausrichtung und berät zu gesunder Lebens- und Unternehmensführung. Als Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin liegt ihr Fokus in der Prävention und beruflichen Rehabilitation. Dies verknüpft sie als Gesundheitsökonomin mit dem Blick auf neue Arbeitskonzepte und Organisationsstrukturen im digitalen Zeitalter. [mehr]
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Quellen
- Berufliche Wiedereingliederung von neurologisch Erkrankten = Mensch mit erworbener Hirnschädigung (MeH): Erfahrungen aus der ambulanten Versorgung, der ambulanten Neurorehabilitation und der regionalen Kooperation mit dem BEM – Autor: Paul Reuther, Ahrweiler, zum DGMSP Erlangen 2014, MDK Tag 25.09.2014
- Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX, § 167 Prävention) – URL: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__167.html
- Schritt für Schritt zurück in den Job: Betriebliche Eingliederung nach längerer Krankheit – was Sie wissen müssen – Hrsg.: Bundesministerium für Arbeit und Soziales – URL: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a748-betriebliche-eingliederung.pdf?__blob=publicationFile&v=1
- Betriebliches Eingliederungsmanagement: Schwerpunkt Stufenweise Wiedereingliederung – Autor: Marcus Schian, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR). Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 12, 2017 – URL: https://www.asu-arbeitsmedizin.com/schwerpunkt/schwerpunkt-stufenweise-wiedereingliederung-betriebliches-eingliederungsmanagement