Delir nach einem Schlaganfall (Post-Stroke-Delir, PSD) ▷ Risikofaktoren, Behandlung, Prognose
In diesem Artikel:
- Was ist ein Delir?
- Formen des Delirs
- Risikofaktoren und Auslöser
- Ursache
- Prävention und Behandlung
- Die Rolle der Angehörigen
- Neue Leitlinie
- Prognose
Jedes Jahr erkranken ca. 270.000 Menschen in Deutschland an einem Schlaganfall. 70.000 Menschen erleiden einen wiederholten Schlaganfall.1
In den ersten Tagen nach einem Schlaganfall sollten Betroffene auf einer Stroke Unit versorgt und behandelt werden, um das Risiko für Komplikationen und wiederkehrende Schlaganfälle zu reduzieren. Eine Stroke Unit ist eine neurologische Spezialstation in einem Krankenhaus, die auf die Therapie von Schlaganfall-Betroffenen spezialisiert ist.
In der Frühphase nach einem Schlaganfall kann es zu Komplikationen kommen. Typische Komplikationen sind eine Druckerhöhung im Schädelinneren, Lungenentzündungen, venöse Thrombosen, Harnwegsinfekte, epileptische Anfälle, Stürze und sogenannte Post-Stroke-Delirien.
Auch im Rahmen anderer schwerer Erkrankungen mit der Notwendigkeit intensivmedizinischer Behandlung und nach großen Operationen kann es zu einem Delir, früher “Durchgangssyndrom” genannt, kommen. Das Delir beeinflusst die Sterblichkeit der Patienten und gewinnt in einer immer älter werdenden Gesellschaft zunehmend an Bedeutung.
Die Akutbehandlung von Schlaganfall-Betroffenen ist eine große Herausforderung für das Behandlungsteam und muss immer wieder an die Entwicklung von neuen Behandlungsmethoden und Erkenntnissen aus der Forschung angepasst werden. Für eine wirksame und bestmögliche Versorgung der Betroffenen werden daher Leitlinien geschaffen, an denen sich Ärztinnen und Ärzte und andere Vertreterinnen und Vertreter von Gesundheitsberufen orientieren können.
In der aktuellen Leitlinie zur Schlaganfallbehandlung wurde das Delir neu aufgenommen. Sie finden die Leitlinie auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN):
S2e Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls (Version 2021)
Zeitweise Verwirrung – was ist ein Delir?
Das Post-Stroke-Delir ist eine akut auftretende, sich verändernde Hirnfunktionsstörung, welche durch Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen sowie Schlafstörungen gekennzeichnet ist.
Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen “de lira ire” (aus der Spur geraten) ab.
Die Symptome des Delirs sind veränderlich, sie treten über wenige Minuten bis zu Tagen auf. Meist kommt es nachts zu einer Symptomverstärkung.
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Betroffene sind desorientiert, wissen nicht, wo und wer sie sind. Das Denken und die Sprache sind gestört, die alltägliche Routine überfordert die Betroffenen und sorgt für Verwirrtheit. Auch Halluzinationen und Wahnvorstellungen sowie motorische Unruhe können auftreten. In vielen Fällen sind die Betroffenen aber nicht unruhig, sondern eher apathisch. Doch es gibt auch erfreuliche Nachrichten: Ein Delir ist therapierbar und meist reversibel.
Laut Definition können die Hirnfunktionsstörungen nicht vollständig durch den Schlaganfall selbst erklärt werden. Das Delir tritt bei mindestens einem Viertel aller Patienten nach einem Schlaganfall auf und stellt besonders hohe Anforderungen an das behandelnde Team.2
Eine Studie zeigte, dass Patienten mit Delir nach einem Schlaganfall eine fast fünffach höhere Sterblichkeit (Mortalität) aufweisen als nicht delirante Patienten und häufiger überdauernde Komplikationen wie kognitive Funktionsstörungen haben. Ein Delir ist verknüpft mit einem schlechteren Behandlungsergebnis (Outcome), einem längeren Krankenhausaufenthalt von ca. 9 Tagen und Betroffene werden eher in ein Pflegeheim aufgenommen.3
Formen des Delirs und Abgrenzung zur Demenz
Ein Delir kann sowohl mit Unruhe und Wahnvorstellungen (“Hypermotorisches Delir”) als auch mit Apathie (“Hypomotorisches Delir”) einhergehen. Auch Mischformen (55-65%) sind häufig, zum Beispiel bei einem postoperativen Delir.4
Das hypermotorische Delir ist durch Gereiztheit, Agitiertheit, Unruhe und eventuell aggressives Verhalten gekennzeichnet. Es kommt vor, dass sich Betroffene Katheter oder Infusionen mit entsprechenden Verletzungen oder Gefährdungen herausreißen.
Das hypomotorische Delir hingegen zeichnet sich durch Antriebslosigkeit, reduzierte Aktivität bis hin zur Lethargie und Apathie aus.
Während das hypermotorische Delir aufgrund der psychomotorischen Unruhe meist erkannt wird, bleibt das hypomotorische Delir häufig unerkannt, da “typische” Symptome wie Unruhe hier fehlen. Dies betrifft vor allem ältere Patienten über 65 Jahre. Das hypomotorische Delir weist eine höhere Mortalität auf.5
Das Alkoholentzugsdelir (delirium tremens) ist hiervon abzugrenzen. Es ist die Folge von chronischem Alkoholismus und tritt einige Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum im Rahmen einer Entzugssymptomatik auf. Die Symptome sind Bewusstseinsstörungen, kognitive Defizite und Rastlosigkeit sowie Unruhe. Aber auch Symptome wie Schwitzen, ein schneller Herzschlag und Zittern, die beim Post-Stroke-Delir nicht auftreten, kommen beim Alkoholentzug vor. Die Therapie unterscheidet sich jedoch von anderen Delirformen.
Besonders bei älteren Patienten wird die Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit fälschlicherweise oft als Ausdruck einer Demenz verstanden und kann folglich nicht adäquat behandelt werden. Sowohl eine Demenz als auch ein Delir betreffen die Kognition (allgemeinsprachlich das Denken). Es sind jedoch unterschiedliche Störungen, die nicht selten schwer gegeneinander abgegrenzt werden können.
Bei einem Delir ist hauptsächlich die Aufmerksamkeit gestört, es tritt plötzlich (akut) auf und nach einigen Monaten kommt es meist zur Wiederherstellung der kognitiven Funktionen. Eine Demenz betrifft eher das Gedächtnis, hat einen schleichenden Beginn und ist meist irreversibel. Die Demenz gilt jedoch als wichtiger Risikofaktor für die Entstehung eines Delirs im Krankenhaus. Es ist also sinnvoll, dass in der neuen Leitlinie das Delir aufgenommen wurde, um Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende für eine frühestmögliche Erkennung zu sensibilisieren, um dann standardisierte Untersuchungs- und Screening-Methoden anwenden zu können.6
Risikofaktoren und Auslöser: Was begünstigt ein Delir?
Delirien sind relevante Komplikationen nach einem akuten Schlaganfall, deren Auftreten durch mehrere Faktoren begünstigt wird. Häufiger tritt ein Delir bei älteren Patienten im Laufe eines stationären Aufenthalts auf, doch auch bei jüngeren Patienten kann zum Beispiel durch Drogengebrauch oder -entzug ein Delir auftreten.
Die häufigsten Risikofaktoren und Auslöser sind Arzneimittel, Dehydratation (Wassermangel im Körper) und Infektionen. Auch starke Schmerzen, emotionaler Stress und Demenz bzw. kognitive Einschränkung sowie Stoffwechselstörungen, ein totaler Infarkt der A.cerebri anterior, und ein schwerer Schlaganfall können ein Delir verursachen.1
Medikamente wie Schmerz- und Beruhigungsmittel, manche Antidepressiva oder Anticholinergika, die in der Therapie des Morbus Parkinson eingesetzt werden, gehören zu den Delir auslösenden Arzneimitteln.
Wesentlich ist auch die verstörende und oft hektische Umgebung der Patienten auf einer Intensiv- oder Überwachungsstation.
Maßnahmen wie Lärmreduktion, nächtliche Lichtreduktion, adäquate Schmerztherapie, Frühmobilisation, Schlafförderung sowie eine konstante und ruhige Umgebung können die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Delirs deutlich senken. Eine medikamentöse Delirprophylaxe kann derzeit nicht empfohlen werden.
Ursache: Botenstoffe im Ungleichgewicht
Es wird angenommen, dass ein Überschuss des Neurotransmitters Dopamin und ein Mangel des Neurotransmitters Acetylcholin für das Auftreten eines Delirs verantwortlich sind.4
Dieses Ungleichgewicht der Neurotransmitter entsteht vermutlich durch die Minderdurchblutung und den Sauerstoffmangel im Gehirn als Folge des Schlaganfalls.7
Die Neurotransmitter Dopamin und Acetylcholin regulieren Funktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation und Kognition im Gehirn. Sind sie im Ungleichgewicht, kommt es zu den genannten Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstörungen.
Den Dopaminspiegel im Blut erhöhende (dopaminerge) Substanzen wie L-Dopa, welches als Basistherapie häufig in der Therapie der Parkinson-Erkrankung eingesetzt wird, können ein Delir auslösen. Gegenspieler des Dopamins, sogenannte Dopaminantagonisten, wie Antipsychotika (z.B. niedrig dosiertes Haloperidol) können daher bei einem hyperaktiven Delir zur Therapie eingesetzt werden. Es sollte jedoch immer zwischen Nutzen und Risiko durch Nebenwirkungen abgewogen werden.
Medikamente, die die Wirkung von Acetylcholin senken (Anticholinergika), können ebenfalls zu einem Delir führen. Dazu gehören die im Krankenhaus und auch ambulant als Dauermedikation häufig verwendeten Substanzen wie starke Schmerzmittel (Opioide), Beruhigungsmittel (Benzodiazepine) und Antidepressiva.
Maßnahmen zur Prävention und Behandlung
Die Delir-Prävention besteht aus dem frühzeitigen Erkennen der beeinflussbaren Risikofaktoren und dem Einleiten der notwendigen Maßnahmen.
Zu den nicht beeinflussbaren Risikofaktoren zählen ein höheres Alter (> 65 Jahre), Demenz, Verletzungen wie Oberschenkelfrakturen und andere schwere Erkrankungen.
Beeinflussbare Risikofaktoren hingegen sind Angriffspunkte für therapeutisches Eingreifen. Hierzu gehören unter anderem Medikamente, welche ein Delir auslösen können, Flüssigkeitsmangel (Dehydratation), Harnverhalt, Infekte sowie Mangelernährung, Schlafstörungen, Schmerzen, Immobilität. Entsprechende Maßnahmen zur Vermeidung dieser Faktoren sollten frühzeitig von geschultem Personal eingeleitet werden. Auch Angehörige können hier mit eingebunden und angeleitet werden, um bei den Maßnahmen behilflich zu sein.
Für viele Patienten ist ein Krankenhausaufenthalt ein irritierendes Erlebnis. Die ungewohnte Umgebung, die fremden und dauernd wechselnden Bezugspersonen können die Orientierung negativ beeinflussen.
Es ist also wichtig, frühzeitig mit Maßnahmen zu beginnen, welche die Orientierung erleichtern. Hierzu zählen beispielsweise das Aufstellen von Uhren, Führen eines Kalenders, in dem Termine notiert werden können und Markieren von Räumen wie dem Badezimmer und Aufenthaltsräumen. Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte fördern die Wahrnehmung und Orientierung der Patienten.
Ermöglicht werden soll ein möglichst dem normalen Leben angepasster Schlaf-/Wach Rhythmus. Im Krankenhaus und gerade auf Intensivstationen wird die Nachtruhe häufig durch ärztliche und pflegerische Untersuchungen, besonders in den frühen Morgenstunden, unterbrochen. Oft herrscht ein hoher Geräuschpegel und die Lichtverhältnisse stören die Nachtruhe.
Auch die Kontrolle der Ernährung und des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalts sind sehr wichtig zur Delir-Prävention. Ein Krankenhausaufenthalt geht mit einer reduzierten Mobilität einher, die Patienten liegen viel und bewegen sich weniger. Dies begünstigt ebenfalls das Auftreten eines Delirs. Eine frühzeitige Mobilisierung der Patienten durch Physiotherapie senkt einerseits die Delir-Häufigkeit und sorgt für körperliche Müdigkeit und dadurch zu besserem Schlaf.
Besonders nach Operationen haben Patienten oft starke Schmerzen. Schmerzen sind für den Körper eine Belastung und können die Entstehung eines Delirs fördern. Bereits im Aufwachraum muss daher eine wirksame Schmerzbehandlung erfolgen.
Während eines Krankenhausaufenthalts werden oft zusätzliche Medikamente verordnet. Bevorzugt ältere Patienten nehmen Medikamente ein, die ein Delir auslösen können.
Diagnostisches Vorgehen
Die Kenntnis der zahlreichen Risikofaktoren sowie das Anwenden von gezielten Suchmethoden (Screening) tragen erheblich dazu bei, ein Delir frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Nicht selten werden allerdings in den Krankenhäusern Delirien nicht erkannt oder fehlgedeutet, da die diagnostischen Mittel nicht konsequent und einheitlich angewendet werden. Das behandelnde Team sollte sich auf ein Screening-Verfahren einigen und geschult werden, um es regelmäßig bei allen Risikopatienten anzuwenden.
Ein Verfahren zum Erkennen von Risikopatienten eines Delirs ist der CAM-ICU-Test. Der CAM-ICU Test steht für “Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit” und ist der zuverlässigste Test. Er wurde konzipiert, um vor allem vom Pflegepersonal auf den Intensivstationen angewandt zu werden.
Es konnte gezeigt werden, dass bei 123 Patienten, die hinsichtlich eines möglichen Delirs untersucht wurden, durch die klinische Einschätzung allein bei 19 Prozent ein Delir diagnostiziert wurde. Nach Durchführung des CAM-ICU Tests wurde hingegen bei 24 Prozent der Patienten ein Delir festgestellt.8
Wenn Merkmal 1: akuter Beginn oder schwankender Verlauf, Merkmal 2: Aufmerksamkeitsstörung und Merkmal 3: Bewusstseinsveränderung oder Merkmal 4: unorganisiertes Denken positiv sind, dann liegt ein Delir vor. Diese Symptome werden anhand einheitlicher Fragebögen erhoben.
Ein vergleichbarer Test ist die Intensive Care Delirium Screening Checklist (ICDSC), die ebenfalls auf Intensivstationen durchgeführt wird.
Die Tests sollten mehrmals am Tag durchgeführt werden und erfordern nur wenige Minuten. Sie sind frei zugänglich und auf Deutsch verfügbar. Auch nach dem stationären Aufenthalt empfiehlt sich im ambulanten Bereich die Durchführung eines regelmäßigen Delir-Screenings.9
Therapie des Delirs
Zusammengefasst ist zu empfehlen, dass bei einem Verdacht auf ein Delir zunächst alle auslösenden Faktoren identifiziert und beseitigt werden sollten.
Dazu gehören u.a. die Behandlung einer möglichen Infektion, ausreichende Sauerstoff- und Flüssigkeitsgabe, die Therapie von Blutzuckerentgleisungen und eine adäquate Schmerztherapie. All diese Faktoren begünstigen ein Delir.
Dopaminerge Medikamente können nicht abrupt abgesetzt, jedoch reduziert oder eventuell durch ein vergleichbar wirksames Medikament ersetzt werden. Nicht dringend benötigte Medikamente müssen abgesetzt werden, um ein Delir zu verhindern.
Zusätzlich sollten möglichst frühzeitig unterstützende, nichtmedikamentöse Maßnahmen wie Frühmobilisation und Orientierungshilfen eingeleitet werden. Anzustreben ist ein natürlicher Schlaf-/Wach Rhythmus. Es konnte gezeigt werden, dass diese Maßnahmen die Häufigkeit des Auftretens eines Delirs um 44 Prozent senken.11
Medikamente können Agitiertheit, Aggressivität, und psychotische Symptome reduzieren. Zur Behandlung der Symptome eines hypoaktiven Delirs sind keine Medikamente bekannt.
Jedoch sollte prinzipiell eine medikamentöse Therapie erst dann erfolgen, wenn konventionelle Mittel nicht mehr ausreichen. Die pharmakologische Substanz Haloperidol ist ein Dopaminrezeptorblocker und sorgt für ein Gleichgewicht zwischen den Neurotransmittern Acetylcholin und Dopamin. Es unterdrückt Wahnvorstellungen und Halluzinationen und verkürzt die Delir-Dauer, hat aber relevante Nebenwirkungen auf das Herz und kann neurologische Störungen auslösen. Bei gleichzeitig bestehendem Morbus Parkinson darf es nicht verwendet werden.
Die Rolle der Angehörigen
Neben dem behandelnden Team auf der Intensivstation können auch Angehörige oder Betreuungspersonen zur Diagnostik und vor allem zur Prävention des Delirs beitragen. Durch den engen Kontakt zum Patienten können bevorzugt Angehörige schnell erkennen, wenn Wesens- und Verhaltensänderungen auftreten und Therapeuten wichtige Hinweise liefern. Sie spielen daher eine wichtige Rolle sowohl bei der Diagnosestellung als auch bei der Behandlung des Delirs.
Hierfür wurde ein spezielles diagnostisches Mittel für Angehörige entwickelt: Die Family Confusion Assessment Method (FAM-CAM). Diese beinhaltet elf Fragen, die von einer Ärztin oder einem Arzt, einem Familienmitglied oder einer Bezugsperson des Patienten gestellt werden. Dabei werden Veränderungen in Bezug auf das Denken, die Konzentration, Aufmerksamkeit und Orientierung und eine zunehmende Schläfrigkeit und besonders auffällige Verhaltensweisen erfasst.
Die FAM-CAM dient nur als Unterstützung in der Diagnostik und kann nicht als alleiniges Kriterium verwendet werden.12
Angehörige sind zudem im Behandlungsprozess sehr wichtig, weshalb sie frühzeitig auch auf der Intensivstation mit einbezogen werden sollten. Vertraute Stimmen mit beruhigenden und erklärenden Worten sind äußerst wichtig. Hierfür richten Intensivstationen flexiblere Besuchszeiten ein.
Zu beachten ist auch die psychische Belastung der Angehörigen.13 Die schnelle und unerwartete Wesensveränderung des Patienten kann sehr schmerzhaft sein und Angehörige verunsichern und überfordern. Plötzlich erkennt der geliebte Mensch vertraute Personen nicht mehr oder verhält sich merkwürdig. Auch in diesem Zusammenhang ist die möglichst frühzeitige Diagnosestellung wichtig, um den Angehörigen Sicherheit zu vermitteln und zum Ausdruck zu bringen, dass es sich meist um eine vorübergehende und in vielen Fällen vollständig rückbildungsfähige Problematik handelt.
Auf Intensivstationen werden daher Informationen rund um das Delir bereitgestellt und die Besuchszeit beispielsweise so gelegt, dass die Angehörigen während der pflegerischen Tätigkeit durch professionelle Pflegende anwesend sein können.14
Weitere relevante Themen wurden in die aktuelle Leitlinie zur Therapie des ischämischen Schlaganfalls aufgenommen.
Neue Leitlinie
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) e.V. und die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) haben aktuell die bisherige S1-Leitlinie zur “Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls” aus dem Jahr 2012 überarbeitet und nun als S2e-Leitlinie publiziert.
Leitlinien sind Empfehlungen zum Vorgehen in speziellen medizinischen Situationen. Sie dienen als systematisch entwickelte Hilfen für alle Beteiligten der Fachdisziplinen, um Patienten möglichst eindeutig Diagnosen stellen und entsprechend behandeln zu können. Dabei berufen sie sich auf evidenzbasierte, wissenschaftliche Erkenntnisse der Medizin.
In der aktualisierten, überarbeiteten Leitlinie finden sich auch neue Empfehlungen, die sich auf erwachsene Patienten mit akutem Hirninfarkt oder TIA (Transitorische Ischämische Attacke) in den ersten 48 Stunden nach Symptombeginn beziehen.2
Bisher enthielten die Leitlinien keine Informationen zum Post-Stroke-Delir (PSD) bei der Akutdiagnostik- und Behandlung eines Schlaganfalls. Das PSD ist bisher wenig erforscht und weder Diagnostik noch Therapie sind standardisiert. Deshalb wurden fünf Empfehlungen in die Leitlinie aufgenommen:2
- Schlüsselfrage: “Verbessert bei erwachsenen Patienten mit akutem Hirninfarkt oder TIA ein systematisches Delir-Screening und ggf. Delir-Behandlung im Vergleich zur konventionellen Therapie im positiven Sinn das Behandlungsergebnis, das sogenannte funktionelle Outcome?”
Empfehlung: “Bei allen Schlaganfall-Patienten soll ein regelmäßiges gezieltes Screening auf delirante Symptome durchgeführt werden (z.B. der Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit (CAM-ICU) oder der Intensive Care Delirium Screening Checklist (ICDSC).”
- “Zur Vermeidung und Behandlung eines Post-Stroke-Delirs sollte ein mehrdimensionaler Ansatz mit nicht-medikamentösen und medikamentösen Maßnahmen zur Anwendung kommen.”
Nicht pharmakologische Maßnahmen sind beispielsweise die Wahrung des Tag-Nacht-Rhythmus und Hilfe bei der Orientierung der Patienten. Außerdem müssen alle Delir-Auslöser identifiziert und eliminiert werden.
Pharmakologische Maßnahmen hingegen können eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr, die Gabe von Neuroleptika bei Unruhe und produktiv psychotischen Symptomen wie Halluzinationen und Wahn sowie Schlafmittel und angstlösende Medikamente sein. Bei massiver Unruhe kann das Neuroleptikum Haloperidol verschrieben werden, jedoch nur vorübergehend, weil es starke Nebenwirkungen verursachen kann (extrapyramidal-motorische Bewegungsstörungen).
- “Eine nicht-pharmakologische Delir-Prävention soll bei allen überwachungspflichtigen Patienten durchgeführt werden. Tagsüber mit stimulierenden Maßnahmen: frühe Mobilisation und Reorientierung (z.B. mit Sehhilfen, Hörgeräten, Kommunikation und Tageslicht). Nachts mit schlaffördernden Maßnahmen: Licht- und Lärmreduktion, Angebot von Ohrstöpseln und Schlafbrillen.”
- “Die Behandlung von produktiv psychotischen Symptomen soll mit Neuroleptika erfolgen.”
- “Eine medikamentöse Behandlung des Delirs kann, wenn nichtmedikamentöse Verfahren nicht ausreichen, je nach Symptomausprägung niedrig dosiert mit Haloperidol, Risperidon, Olanzapin oder Quetiapin erfolgen.”
Prognose
Nach einem Schlaganfall, Operationen oder Krankenhausaufenthalten sind Delirien relevante Komplikationen, deren Folgen für die Betroffenen und deren Angehörige schwerwiegend sein können.
Das Delir ist mit einem schlechteren Behandlungsergebnis verknüpft. Es kann zu einer dauerhaften Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten bis hin zu einer bleibenden Demenz führen.
Maßnahmen zur Früherkennung haben daher für die Prognose und Mortalitätsrate eine hohe Bedeutung. Ein regelmäßiges Delir-Screening mit einem zuverlässigen Test sollte regelmäßig durchgeführt werden, um möglichst wenige Delir-Fälle unerkannt zu lassen.
In der Regel ist ein Delir reversibel und bildet sich nach einigen Wochen wieder zurück. Kognitive Beeinträchtigungen können auch erst nach einigen Monaten abklingen.
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- Was ist ein Schlaganfall?
- Die Folgen des Schlaganfalls
- Rehabilitation nach einem Schlaganfall
- Die Symptome des Schlaganfalls
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Artikel erstmalig veröffentlicht am: - Nächste geplante Aktualisierung am:
Autor
unter Mitarbeit von stud. med. Rosalie Hartmann
Dr. med. Thomas Staudacher ist Facharzt für Neurologie. Sein Schwerpunkt ist die Notfallbehandlung von Schlaganfällen. 20 Jahre lang leitete er eine Stroke Unit, also eine Spezialstation zur Akutbehandlung und Intensiv-Überwachung von Schlaganfall-Patienten. [mehr]Sie erhalten von uns regelmäßig und kostenlos aktuelle Informationen rund um den Schlaganfall.
Quellen
- Delir bei Patienten mit Schlaganfall: Eine kritische Literaturanalyse zur Feststellung der Risikofaktoren – Autoren: Nydahl, P., N. G. Margraf, and A. Ewers – Publikation: Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin, 112.3 (2017), 258–64 – DOI: 10.1007/s00063-016-0257-6
- Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2021 – Autoren: Ringleb P., Köhrmann M., Jansen O., et al. – Publikation: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie – URL: www.dgn.org/leitlinien
- Delirium in Acute Stroke: A Systematic Review and Meta-Analysis – Autoren: Shi, Qiyun, Roseanna Presutti, Daniel Selchen,Gustavo Saposnik – Publikation: Stroke, 43.3 (2012), 645–49 – DOI: 10.1161/STROKEAHA.111.643726
- Acute Confusional States in Hospital – Autoren: Zoremba, Norbert, Mark Coburn – Publikation: Deutsches Aerzteblatt Online, 2019 – DOI: 10.3238/arztebl.2019.0101
- Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir, S1-Leitlinie, 2020 – Autoren: Maschke M. et al. – Publikation: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. – URL: www.dgn.org/leitlinien
- Delir – Autor: Huang, J. – URL: https://www.msdmanuals.com/de/profi/neurologische-krankheiten/delir-und-demenz/delir
- Der delirante Patient auf der Intensivstation: Hände weg von Benzodiazepinen! – Autor: Stiefelhagen, P. – URL: https://www.arzneimitteltherapie.de/heftarchiv/2012/05/der-delirante-patient-auf-der-intensivstation-hande-weg-von-benzodiazepinen.html
- Delirium Screening in Neurocritical Care and Stroke Unit Patients: A Pilot Study on the Influence of Neurological Deficits on CAM-ICU and ICDSC Outcome – Autoren: von Hofen-Hohloch, Judith, Carolin Awissus, Marie Michèle Fischer, Dominik Michalski, Jost-Julian Rumpf, Joseph Classen – Publikation: Neurocritical Care, 33.3 (2020), 708–17 – DOI: 10.1007/s12028-020-00938-y
- Psychische Begleiterkrankungen nach Schlaganfall – Autoren: Elsner, Bernhard, Jan Mehrholz – Publikation: neuroreha, 10.02 (2018), 71–76 – DOI: 10.1055/a-0596-6456
- Delir – Ein Evidenz basierter Überblick – Autoren: Spies, Marie, Richard Frey, Michaela-Elena Friedrich, Siegfried Kasper, Pia Baldinger-Melich – Publikation: Wien. Klin. Wochenschr. Educ., 14 (2019), 1–17
- Effectiveness of Multicomponent Nonpharmacological Delirium Interventions: A Meta-Analysis – Autoren: Hshieh, Tammy T., Jirong Yue, Esther Oh, Margaret Puelle, Sarah Dowal, Thomas Travison et al. – Publikation: JAMA Internal Medicine, 175.4 (2015), 512–20 – DOI: 10.1001/jamainternmed.2014.7779
- The Family Confusion Assessment Method (FAM-CAM) – Autoren: Inouye, Sharon K, MR Pulle, Saczynski, Steis – Publikation: J Am Geriatr Soc, 60.21 (2012), 21–26
- Angehörige in die Delir-Diagnostik einbinden – Autor: Krewulak – Publikation: Geriatrie-Report, 14.2 (2019), 13–13 – URL: 10.1007/s42090-019-0217-4
- Delir und Angehörige auf Intensivstation ein ganzheitlicher Ansatz. – Universitätsklinikum Schleswig Holstein (01.2015) – URL: https://docplayer.org/112660875-Delir-und-angehoerige-auf-intensivstation-ein-ganzheitlicher-ansatz-delir-und-angehoerige-auf-intensivstation-ein-ganzheitlicher-ansatz.html