Anlässlich des Tages gegen den Schlaganfall am 10. Mai 2021 stellte die Schlaganfallbegleitung eine kostenlose Online-Veranstaltung für alle PatientInnen, Angehörige und Interessierte auf die Beine.
Vier ExpertInnen teilten ihr Wissen in Kurzvorträgen über aktuelle Themen rund um den Schlaganfall. In der anschließenden Diskussionsrunde konnten alle TeilnehmerInnen Fragen stellen sowie Anregungen und persönliche Erfahrungen mit dem Team der Schlaganfallbegleitung teilen.
Wieso machen wir das eigentlich?
Corinna von Büdingen, Gründerin und Geschäftsführerin der Schlaganfallbegleitung, moderierte von 17 bis 19 Uhr die Veranstaltung und formulierte gleich zu Beginn die wesentliche Frage: „Was treibt uns an?“.
Die Mission der Schlaganfallbegleitung ist die gezielte Aufklärung, das Bereitstellen von Informationen und das Stärken des Bewusstseins der Bevölkerung in Bezug auf den Schlaganfall. 90 Prozent der Schlaganfälle werden schließlich durch 10 beeinflussbare Risikofaktoren verursacht, welche erkannt und behandelt werden können, um Folgeerkrankungen zu verhindern.
Als digitale Anlaufstelle liefert die Schlaganfallbegleitung fachlich fundierte, seriöse und unabhängige Informationen an eine große Zahl von Personen und begleitet Betroffene und ihr soziales Umfeld auf Ihrem individuellen Weg.
Förderung der Gesundheitskompetenz
Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen, ebenfalls Gründer der Schlaganfallbegleitung und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie im Neurozentrum Ravensburg, startete die Vortragsrunde mit einem ganz deutlichen und dringenden Appell:
Um Herz-Kreislauf-Erkrankungen – einer Seuche des 21. Jahrhunderts – vorzubeugen, ist eine gezielte Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung notwendig. Durch Bildung, Aufklärung und Prävention soll die Selbstverantwortung von Menschen gegenüber den eigenen Risikofaktoren auch auf digitalem Weg gestärkt werden.
Schlaganfälle gehen uns alle an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle treten in allen Gesellschaftsschichten auf, auch jüngere Menschen sind zunehmend betroffen. Dies stellt eine große Herausforderung nicht nur für die Betroffenen und Angehörigen, sondern auch für die Gesundheitspolitik dar.
„Ein Schlaganfall tritt schlagartig auf, aber verläuft chronisch“, häufig hinterlässt er bleibende Behinderungen und die Therapie ist oftmals komplex und sehr teuer. Eine sektorenübergreifende und strukturierte Nachsorge ist weiterhin eine Herausforderung.
Prof. von Büdingen betonte aus langjähriger Erfahrung, dass der Schlaganfall und seine Folgen nicht nur ein individuelles Problem, sondern auch eine Herausforderung für das gesamte Umfeld der Betroffenen sind. Deshalb ist es notwendig, dass die Betroffenen sowie die Angehörigen verstanden und mit einbezogen sowie „verständlich und verständnisvoll“ aufgeklärt werden.
Eine TIA als Vorbote für einen schweren Schlaganfall
Im Anschluss berichtete Dr. med. Jürgen Kunz, Facharzt für Neurologie im Neurozentrum Ravensburg, über die TIA und die Neuroplastizität.
Die transitorische ischämische Attacke (TIA) unterscheidet sich vom Schlaganfall nur in ihrer kurzen Dauer und Reversibilität, also der Möglichkeit, dass sich Symptome zurückbilden. Bei jeder*jedem 3. Patientin*Patient tritt nach einer TIA in den nächsten 5 Jahren ein Schlaganfall auf.
Die TIA ist somit ein ernstzunehmendes Alarmzeichen und stellt einen Notfall dar.
Auf einer spezialisierten Station, einer Stroke-Unit, ist eine rasche Behandlung erforderlich, um die Prognose zu verbessern.
Wenn mehrere Risikofaktoren für das Auftreten einer TIA wie Bluthochdruck, Diabetes und Fettstoffwechselstörungen, vorhanden sind, kann das Risiko um ein 20-faches ansteigen. Eine konsequente Behandlung dieser beeinflussbaren Risikofaktoren kann dies verhindern.
Neuroplastizität als Fähigkeit des Gehirns, seine Netzwerkstrukturen ändern zu können
Die Neuroplastizität bezeichnet funktionelle und strukturelle Anpassungsveränderungen im zentralen Nervensystem. Sie kann durch veränderte Anforderungen, Training wie zum Beispiel Klavierspielen oder Schädigungen des zentralen Nervensystems beeinflusst werden und ermöglicht, dass wir neue Dinge lernen können.
Die Tatsache, dass Lernvorgänge möglich sind, kann bei der Therapie nach Schlaganfällen genutzt werden. Beispielsweise dient die Forced-Used-Therapie bei PatientInnen mit Halbseitenlähmung dem Wiedererlernen von Bewegungen durch gezieltes Training in der gelähmten Extremität, wobei die Neuroplastizität stimuliert wird.
Dr. Kunz stellte abschließend einen passenden Fall aus seinem Praxisalltag vor: Ein Patient, der mit einer TIA stationär aufgenommen wurde, litt in den Folgetagen unter einer Verschlechterung des Zustands mit schwerer Hemiparese und benötigte einen Rollstuhl. Einige Monate nach dem Reha-Aufenthalt konnte eine starke Verbesserung der Hemiparese festgestellt werden und es waren keine Hilfsmittel mehr notwendig.
Eine Stroke Nurse ist ganz für PatientInnen und Angehörige da
Schlaganfall-PatientInnen, die nach ihrem Krankenhausaufenthalt nach Hause kommen, sind oft mit Überforderung und großen Herausforderungen im Alltag konfrontiert.
„Wie geht es weiter?“, „Bekomme ich eventuell einen erneuten Schlaganfall?“.
Viele Fragen, Ängste und Unsicherheiten begleiten Betroffene und besonders ihre Angehörigen.
Pia Bader ist examinierte Krankenpflegerin und seit mehreren Jahren als Stroke Nurse in Ravensburg tätig. Sie betreute und begleitete bereits 800 Betroffene nach einem Schlaganfall.
Als dritte Vortragende stellte sie die Aufgaben der Stroke Nurse sowie ihre Bedeutung in der Nachsorge vor und regte damit in der anschließenden Diskussionsrunde viele Fragen von TeilnehmerInnen an.
Stroke Nurses sind speziell ausgebildete Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, die im regelmäßigen Kontakt mit den Betroffenen stehen, Hausbesuche erledigen und PatientInnen zu Hause dabei begleiten, individuelle Risikofaktoren zu überwachen und zu verringern.
Frau Bader bringt es auf den Punkt: Die Stroke Nurse als Vertrauensperson „gibt Halt, Sicherheit und Hilfe für das weitere Leben“. Sie ist die Vermittlerin zwischen PatientInnen, Angehörigen und ÄrztInnen.
Bisher ist die Tätigkeit einer Stroke Nurse oder eines Schlaganfall-Lotsen noch nicht im Gesundheitssystem verankert, sondern bundesweit ein Versuch, die Nachbehandlung von Schlaganfall PatientInnen erheblich zu verbessern.
Auch die Seele braucht Hilfe
Ein Schlaganfall muss rasch erkannt und behandelt werden, denn „Zeit ist Hirn“.
Er stellt eine Ausnahmesituation für die Betroffenen dar, die vor allem auch seelische Spuren hinterlassen kann.
Dr. med. Lienhard Dieterle, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie im Neurozentrum Ravensburg, beendete die Vortragsrunde mit seinem Beitrag über die Bewältigung von akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen und die Krankheitsverarbeitung in Folge von Schlaganfällen.
Gefühlsveränderungen wie Ängste, Depressionen oder Wut, die nach einem Schlaganfall auftreten können, benötigen stützende Gespräche, Motivationsarbeit und Psychotherapie durch ein interdisziplinäres Behandlungsteam. Auch zusätzliche Erkrankungen der Betroffenen haben einen Einfluss auf die Krankheitsverarbeitung und stellen eine weitere Hürde im Bewältigungsprozess der Betroffenen dar.
Ein Schlaganfall kann die Persönlichkeit verändern sowie hirnorganische Veränderungen verursachen. Oftmals leiden Betroffene unter Wesensveränderungen, Demenz, verstärkten unkontrollierbaren Gefühlen wie übermäßige Euphorie oder Ängsten. Das soziale Umfeld reagiert verunsichert und die Betroffenen ziehen sich zunehmend zurück. Eine soziale Vereinsamung der Betroffenen kann durch einfühlsame Betreuung und Beratung der Angehörigen vermieden werden.
Rege Diskussionsrunde
An der abschließenden Diskussionsrunde beteiligten sich zahlreiche TeilnehmerInnen der Online-Veranstaltung.
Betroffene und Fachleute, Ehrenamtliche und Auszubildende in Gesundheitsberufen konnten ihre Fragen im Chat oder persönlich stellen sowie ihre persönlichen Erfahrungen in der Runde teilen.
Insbesondere das Modell der Stroke Nurse wurde weiter diskutiert: wie wird es finanziert? Wie ist die Versorgung gedeckt? Frau Bader und das ärztliche Team konnten Antworten und Zukunftsausblicke geben.
Wertvolle und wichtige Anregungen zum Ausbau der Interdisziplinarität im Gesundheitswesen, der Notwendigkeit von verbesserter deutschlandweiter Vernetzung und Informationsbereitstellung zwischen den Betroffenen und einem Behandlungsteam wurden ebenfalls diskutiert.
Für das Team der Schlaganfallbegleitung stellte der Tag gegen den Schlaganfall eine wichtige Gelegenheit dar, mit den BesucherInnen und TeilnehmerInnen in einen persönlichen Austausch zu treten und auf wichtige Themen rund um den Schlaganfall aufmerksam zu machen.
Die ReferentInnen
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Autoren
unter Mitarbeit von stud. med. Rosalie Hartmann
Prof. Dr. med. Hans Joachim von Büdingen ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurozentrum Ravensburg. Als Chefarzt leitete er die Abteilung für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört die Diagnostik und Behandlung von Schlaganfällen. [mehr]